Die Herausforderung in der Musik von Jorge López besteht darin, dass sie das Umschlagen der Zivilisation in Monströses und Ungeheuerliches beschreibt. In Landscape with Martyrdom (1981–84) verweist er den Menschen aus der Natur. Später verwandelt er Kampf und Eros in Krieg und Pornografie, Fetische jener, die sich der Aufklärung verweigern und die doch mitten unter uns leben, ja, so López’ These, in uns selbst. López konfrontiert uns mit jenen Seiten, die wir uns nicht zugeben mögen; er ist das schlechte Gewissen der Neuen Musik.
Verstörend sind auch die Künstler, an denen sich seine Musik inspiriert. Erotik, Gewalt und Verdinglichung durchdringen einander in den geschnürten Puppen des Surrealisten Hans Bellmer, die López zu dem Quintett Dehnbare Puppe mit Reißverschluss (2003) anregten. Oder die beiden, die er nun in einem Orchesterwerk zusammenbrachte, die Zeitgenossen waren, deren Eigensinn sie ihrer Auftraggeber entfremdete (was dem Bildenden Künstler die Inquisition auf den Hals hetzte) und deren beider Schicksale die Taubheit wurde: Francisco de Goya und Ludwig van Beethoven.
López zitiert im Titel seines Orchesterzyklus Disparates das Spätwerk des 1828 gestorbenen spanischen Malers. Parallel zu diesen enigmatisch-düsteren Zeichnungen komponierte Beethoven in Wien seinen letzten Zyklus von Klavier-Bagatellen: sechs Ansichten einer kahlen Klanglandschaft mit oft unfassbar einfacher Thematik, deren vorhersehbaren Verlauf der Komponist lustvoll zerstört. Sie bilden die musikalische Grundlage der Disparates. So wie in seiner Skrjabin-Adaption Hin zur Flamme! (2000) geht López hier bis an die Grenze der Instrumentation, ja er findet sogar teilweise zu einer blockhaften Textur, die er in seinen flirrenden, auf solistischem Orchestersatz basierenden Partituren bislang vermied.
Und doch seziert er Beethoven, zerschlägt das Porzellan seiner Klaviermusik, um die Scherben anschließend mit zittrigen Fingern zu wiegen, unter dem Vergrößerungsglas zu betrachten und um über die neuen monströsen Dimensionen zu erschrecken. Wahlverwandtschaften gibt es zuhauf. Immer wieder wühlt sich Beethoven aus den von López bevorzugten tiefen Registern hervor, die der Erde und dem Schmutz näher sind als die Geigen, die im Himmel herumhängen sollen; immer wieder schlägt die Motorik Beethovens in militärisches Rasseln um; und immer wieder setzt sich in solchen Momenten Vor-Musikalisches durch: Ölfass, Bongos und Metalltrommel, Instrumente, die eher elementare als zivilisierte Klänge produzieren. Damit entreißt López die Bagatellen jenem gutbürgerlichen Geschmack, der sich Beethovens Musik dem Komponisten zum Trotz schließlich doch angeeignet hatte.
Im ersten Stück, La madre de Beethoven, lässt López die Motive der ersten Bagatelle aufeinanderprallen, oft brutal, meist das Material umdeutend. So wird eine luftige Kadenz der rechten Hand vom Kontrabass gebrabbelt und harsche Sekundreibungen, die Beethoven dann doch noch auflöst, bohren sich bei López unversöhnt in die Ohren. Son cosas de la vida – der Stoßseufzer „So ist das eben“, nicht weniger ironisch gemeint, als der rührselige Titel des ersten Stückes – überträgt Beethovens Rhythmus der zweiten Bagatelle ins Militärische. Ein Alptraum.
Beethovens dritte Bagatelle wird in Suave como ave volando paso mi vida cantando (Stücktitel des argentinischen Saxofonisten Gato Barbieri, übersetzt etwa: Sanft wie ein Vogel im Flug, singe ich mein Leben durch) weitgehend wörtlich instrumentiert, aber auch hier gefriert die Kadenz in nackten Rhythmus. Bei No me pongas esa cara de sufrimiento! (Zeig mir keine solche Leidensfratze!) nimmt López vier rätselhaft einsilbige Beethoventakte zum Anlass, aus dem geradlinigen Verlauf der Instrumentation auszubrechen und den Klang des ganzen Orchesters aufzufächern – Zeitlupe und Klangprisma in einem. Schließlich vereint das letzte Orchesterstück, Sal si puedes (frei übersetzt: Rette sich, wer kann), die Bagatellen Nr. 5 und 6. Ein dunkles Finale, angeheizt vom Schlagzeug und mit Schichtungen à la Ives, aus denen auch ein Quintwiderschlag aus Beethovens Neunter hervorleuchtet.
„Als Beethoven den Stein reden machte,“ schrieb Adorno 1934, „indem er mit dem Meißel Figuren daraus schlug, flogen im furchtbaren Aufprall die Splitter. Und wie der Geologe aus winzigen, versprengten Stoffteilen die wahre Beschaffenheit ganzer Erdschichten zu erkennen vermag, so zeugen die Splitter für die Landschaft, aus der sie kommen.“ Wenn denn López’ Musik die Topografie dieser Landschaft vermisst, so wird man sich nicht wundern, auf jene Ungeheuer zu stoßen, die Goya zu Papier brachte.