Elektromagnetische Stadtspaziergänge
Seit den 1970ern beschäftigt sich Christina Kubisch mit elektromagnetischer Induktion. Als sie in den Neunzigern eine größere Installation mit im Raum verspannten elektrischen Kabeln realisierte, hörte sie plötzlich diverse Signale einstrahlen. Es war jene Zeit, in der sich immer mehr elektromagnetische Felder bildeten. Kubisch ließ sich spezielle Kopfhörer bauen, mit denen sie diese Felder hörbar machen und gleichzeitig aufnehmen konnte. Seit der Jahrtausendwende veranstaltet sie Electrical Walks, bei denen das Publikum die Möglichkeit hat, entlang einer vorgeschlagenen Route die so vielfältig klingenden elektromagnetischen Felder, deren Anzahl beständig zunimmt, selbst zu erkunden. „Die Palette dieser Geräusche, ihre Klangfarben und Lautstärke variieren von Ort zu Ort, von Land zu Land“, so die Künstlerin. „Eines haben sie gemeinsam: sie sind überall, auch dort, wo man sie nicht vermuten würde. Lichtsysteme, Transformatoren, Diebstahlsicherungen, Überwachungskameras, Handys, Computer, Aufzüge, Straßenbahnleitungen, Antennen, Navigationssysteme, Bankautomaten, Leuchtreklamen, Elektrogeräte etc. bilden Stromfelder, die wie unter einem Tarnmantel versteckt und doch von unglaublicher Präsenz sind.“
Susanna Niedermayr: Sie können sich sicher noch an den ersten Moment erinnern, in dem Sie mit einem von Ihnen entwickelten Kopfhörer durch die Stadt gegangen sind. Das muss ja eine unglaublich tolle Erfahrung gewesen sein, all diese elektromagnetischen Klänge plötzlich wahrnehmen zu können…
Christina Kubisch: Eine ganz besonders intensive Erfahrung in dieser Zeit war ein Festival in Tokio, an dem ich teilgenommen habe. In Japan gibt es und gab es schon damals sehr viele elektrische Felder, vielleicht mehr als in Europa. Alvin Lucier war auch bei diesem Festival zu Gast, und ich habe zu ihm gesagt: „Hör dir das einmal an, wie findest du das denn?“ Er hat sich den Kopfhörer geschnappt und ist dann lange weggeblieben. Nachdem er zurückgekommen war, sagte er: „That’s music!“ Das hat mich ermutigt, mit den Erkundungen der elektromagnetischen Felder unserer Umwelt weiterzumachen und sie als Klangquellen für meine Arbeit zu nutzen.
SN: Wie hat sich diese Klanglandschaft der elektromagnetischen Felder im Laufe der vergangenen Jahre verändert?
CK: Das Spektrum der elektromagnetischen Klänge wächst ständig, es wird immer interessanter. Es wird auch immer bedrohlicher, muss ich sagen. So Systeme wie etwa G5 werden noch ganz neue technische und für mich auch akustische Welten aufmachen, da bin ich sehr gespannt. Die elektromagnetischen Felder gehören mittlerweile zum Alltag. Wenn ich meinen elektromagnetischen Aufnahmekopfhörer trage, dann tauche ich in eine Art Parallelwelt ein. Ich sehe etwas und höre aber etwas anderes. Daraus entstehen neue Bilder und Vorstellungen, die unsere Wahrnehmung verändern.
SN: Sie haben auch viel mit Licht, etwa mit speziellen Pigmenten gearbeitet, die erst durch den Einsatz von UV-Licht ihr volles Potential entfalten und dabei selbst zu Leuchtquellen werden. Woher kommt diese Faszination für das Unsichtbare und Unhörbare?
CK: Ja, vielleicht aus diesem ganz frühen Protest. Die Welt ist ja nicht nur so wie man sie sieht oder hört, es gibt noch ganz andere Ebenen. Gerade diese Nachkriegswelt der 1950er-Jahre, in der ich aufgewachsen bin, war sehr von dem Streben nach finanzieller Sicherheit geprägt. Damals hat es immer geheißen: Das wichtigste ist, dass ihr Geld verdient und etwas Ordentliches in eurem Leben macht. Das hat mich bereits damals dazu bewogen zu denken, dass das ja nicht alles sein kann. Ich habe mir immer gedacht, es gibt mehrere Welten. Und die Kunst ist vielleicht eine Möglichkeit, etwas Anderes sichtbar oder hörbar zu machen, was auch immer da ist.
SN: Mit Graz verbindet Sie eine bereits lange Geschichte…
CK: Ich hatte in Hamburg klassische Musik studiert und bin dann, auch weil ich in einer Rockband war, rausgeschmissen worden. Das einzige, was ich mir daraufhin vorstellen konnte, war an eine Hochschule zu gehen, an der auch Improvisation gelehrt wurde. Damals war an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Graz gerade die Jazzabteilung neu gegründet worden, also bin ich nach Graz gegangen. Zwei Jahre habe ich dort studiert. Ich habe bald gemerkt, dass ich keine gute Jazzmusikerin werden würde, aber ich hatte eine sehr schöne Zeit.
SN: Was können Sie bereits über Ihre Electrical Walks in Graz verraten?
CK: Graz hat sehr dichte elektromagnetische Felder, die sehr vielfältig sind. Signale aus unterschiedlichen Quellen treffen aufeinander, einige sind eher melodisch und tonal, wie die Litfaßsäulen mit Leuchtreklamen, andere sind bestimmt durch digitale Sender und Empfänger. Allgegenwärtig sind die Trams, die mit ihren sirenenartigen Klängen überall in Graz präsent sind.