Vor vielen Jahren in Thessaloniki hatte ich die Gelegenheit, einen Fliesenlegerspezialisten beim Restaurieren des Bodens eines denkmalgeschützten Gebäudes zu beobachten. Ich glaube, es war ein türkischer Hamam aus dem 16. Jahrhundert. Die mosaikartigen Bodenbeläge der verschiedenen Räume des Gebäudes waren nicht vollständig erhalten; so hat man entschieden, zumindest einen großen Raum mit dem Original-Material zu verfliesen. Das Original-Material bestand also aus vielen unterschiedlich geformten flachen Steinen gleicher Qualität, die aber von verschiedenen Räumen des Gebäudes stammten und deswegen eine unüberschaubare Anzahl unterschiedlicher Färbungen aufwiesen.
Ich habe den Fliesenleger gefragt, wie er wohl entscheide, mit welchen Farben er anfängt; darauf antwortete er, dass er das gar nicht entscheiden müsse bzw. dass es egal sei, mit welchen Steinen er anfange. Der konkrete Raum habe ja in seiner Funktion im Gebäude weder einen Anfang noch ein Ende, da man ihn aus verschiedenen Richtungen betreten und durchschreiten könne (der Raum war durch Säulen zwar „abgegrenzt“ aber zum restlichen Gebäude „offen“). „Und das soll auch so bleiben“, sagte er. Er denke gar nicht daran, dem Raum – durch Musterbildung im Bodenmosaik – eine „Richtung“ zu geben.
Ob er nicht an Kombinationen denke, welche Farben wohl zueinander passen, und an Farbmuster, die entstehen sollten, war meine nächste Frage. „Wozu“, antwortete er. „Ich nehme einfach die Steine, die mir gerade unter der Hand liegen, und versuche die gleiche Farbe in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen zu legen (wobei zu bedenken ist, dass auch Steine mit gleicher Farbe leicht unterschiedliche Form haben). Und wenn die Steine einer Farbe ausgegangen sind, dann nehme ich die nächste Farbe.“
„Ein Stein muss gar nicht an seine Umgebung angepasst werden“, setzte er fort. „Sobald ein Stein gelegt ist, beeinflusst und verändert er seine Umgebung und wird dadurch Teil von ihr.“ Und was das „zueinander passen“ und das „Entstehen von Mustern“ betreffe, solle ich aufhören, so blöd zu fragen: „Das wird schon funktionieren. Denn schließlich haben ja die Steine etwas Grundsätzliches gemeinsam: sie sind alle unterschiedlich.“
An diese Worte des Fliesenlegers habe ich Jahre später denken müssen; wie entstehen bspw. Muster? Gezielt, nach einem Konzept, oder reicht es schon, die Elemente, aus denen die Muster bestehen sollen, einzuschränken? Und da kommt auch die Freiheit ins Spiel: bedeutet mehr Möglichkeiten zu haben, automatisch mehr Freiheit? Was braucht man wirklich, was erachtet man als notwendig, ohne die Dinge zu „verbrauchen“?
Die künstlerische Freiheit besteht für mich in der selbstbestimmten Einschränkung (also einer autonomen, nicht heteronomen Freiheit) und Kontrolle in der Unterscheidung zwischen Möglichem und Notwendigem. Auf diese Weise müssen Freiheit und Kontrolle keine Gegensätze sein. Genau diese Selbstbestimmung der Einschränkungen und Regeln als Lebenshaltung aber auch politische Haltung kann man in der Kunst sehr gut „üben“.
Timescales 4: Sechs Intervalle, wobei abschnittsweise jeweils nur drei verwendet werden ... Den „Farben“ der daraus ergebenden Harmonik und den durch wiederholtes Erscheinen eines Klangereignisses entstehenden Veränderungen der musikalischen „Umgebung“ zuzuhören und darauf kompositorisch zu (re-)agieren ... Die unglaubliche Vielfalt in einem sehr eingeschränkten Material entdecken ... Finden, was ich aus dieser Vielfalt brauche ... Keine dramaturgische Absicht; keine Anbetung von Schönheitsidealen des Klanges.
P.S.: Weil ich davon ausgehe, dass dieser Text situationsbedingt von mehreren Menschen gelesen wird, will ich aufgrund aktueller Ereignisse die Gelegenheit nutzen, kommentarlos an die Worte der österreichischen Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914) zu erinnern. Wohlgemerkt: absolut zusammenhangslos zu meiner Komposition, nur so ... „Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen – nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden.“