Namkhay Rtsima
Namkhay Rtsima / Spine Of The Sky / Rückgrat des Himmels

Namkhay Rtsima / Spine Of The Sky / Rückgrat des Himmels

Susanna Niedermayr: Im Westen wird Ladakh auch gerne als Klein-Tibet bezeichnet und ist vor allem für seine buddhistische Kultur bekannt. Die Mehrheit der Bevölkerung ist aber im muslimischen Glauben verwurzelt, auch Deine Familie. Ein religiöses, kulturelles und gesellschaftliches Spannungsfeld, dass Du in Deiner Musik zu überwinden versuchst, auf der Suche nach einer pan-ladakhischen Identität.

Ruhail Qaisar: Ich bin der Meinung, dass die ‒ auch durch die Abgeschiedenheit der Region geprägte ‒ Vorstellung von einem Klein-Tibet viel mit kolonialem Intellektualismus und Exotismus zu tun hat, zudem wird es von der Tourismusbranche und dem Souvenirhandel als unschlagbares Verkaufsargument eingesetzt. Ich möchte aber noch Folgendes zu bedenken geben: Wenn man etwas über sich selbst lernt, dann lernt man es von einem Historiker oder einer Historikerin aus dem Westen. Die Ladakhis lernen, sich selbst als „einzigartig“ wahrzunehmen, und wenn diese Einzigartigkeit nicht zu einem idyllischen Shangri-La verklärt wird, ist es mit der Besonderheit auch schon vorbei. So „idyllisch“ es hier in vielerlei Hinsicht auch sein mag, mir ging es darum, die andere Seite zu erforschen, zum Beispiel warum ein großer Teil unseres Landes vom Militär besetzt ist, warum bei uns viele Menschen so jung sterben müssen oder wir immer häufiger von Naturkatastrophen betroffen sind, ob der „Fortschrittsgedanke“ im Evangelium der Moderne noch haltbar ist und welcher Preis dafür zu zahlen ist. Ich bin aufgewachsen in der Zeit nach den Unruhen von 1989, die in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen haben. Man musste die Vorurteile, die zwischen den religiösen und ethnischen Gemeinschaften bestehen, stets mitberücksichtigen, wobei die Spannungen so gut wie alle Bereiche des sozialen Lebens tangierten. Ich hingegen habe die Idee verfolgt, mich aus diesen ständigen Reibereien auszuklinken und eine Identität zu entwickeln, die unmittelbar mit dem Land verbunden ist.

SN: Wie spiegelt sich die Sehnsucht nach einer pan-ladakhischen Identität in Namkhay Rtsimamusikalisch wider?

RQ: Bevor ich mit Musik in Berührung kam, die indischen oder westlichen Standards entsprach, bildeten buddhistische Begräbnismusik oder die Naats und Qasidas, die zu Muharram gesungen werden, die ersten musikalischen Eindrücke, die mir in Erinnerung geblieben sind, wobei die Prozessionen der in Trauergewänder gekleideten Mönche visuell genauso beeindruckend waren wie die langen Züge von Gläubigen, die sich selbst geißelten. Diese beiden Prozessionsformen, die eine im Zeichen des Märtyrertums, die andere als spirituelle Begleitung auf dem Weg zur Wiedergeburt, werden unter einem geo-philosophischen Titel, der übersetzt „Das Rückgrat des Himmels“ bedeutet, zusammengeführt ‒ pan-ladakhischer geht es nicht. Ich möchte dem Publikum etwas von der Macht der Klänge vermitteln. Ich kann natürlich nicht die gleichen Kräfte freisetzen wie ein Umzug von tausend Menschen, aber ich habe Soundsysteme, die mir ermöglichen, den Raum zu erweitern.

SN: Du bezeichnest das Stück als „antilinguistisches Trauerspiel“, ist es also ein Klagelied oder mehr ein Befreiungsschlag durch Katharsis?

RQ: Ich kenne diverse Aspekte des menschlichen Leidens und der Trauer, ausgelöst von Tragödien. Es geht nicht um Viktimisierung, vielmehr geht es um die kollektive Heilung. Auch die Vergangenheit hat Zukunft. Das Tragische ist das Schweigen der Vergangenheit, und mit meinen Kompositionen möchte ich dieses Schweigen in Farbe tauchen, ihm altes Wissen entlocken, auch wenn es auf Kosten der idyllischen Schönheit geht. Das Trauerspiel kontextualisiert die Idee, nicht zu einer heroischen oder dramatischen Lösung zu gelangen, sondern zur Katastrophe zu führen, was meiner künstlerischen Praxis sehr entgegenkommt, weil Dissonanz menschlich ist. Das Lexikon der Trauer und der lokalen Tragödien ist insofern mit meiner Klangforschung verwoben, als ich Emotionen zulasse und Klagelieder neu belebe. Dies geht mit einer wahren Eruption von Bildern und Allegorien einher, einer chaotischen Masse, für die ich keine Worte finde und die ich nicht erklären kann.

Interview: Susanna Niedermayr, Übersetzung: Friederike Kulcsar
Kooperationen

Ruhail Qaisar ist Stipendiat des  Styria-Artist-In-Residence-Programms des Landes Steiermark.

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Dom im Berg
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Uraufführung
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