Eine Schnecke und ein Insekt erleben und interpretieren Zeit bestimmt ganz anders als wir. Angenommen, die beiden beobachten eine Bushaltestelle: Da sich Fahrzeuge aus der Perspektive einer Schnecke mit einer ungeheuren Geschwindigkeit bewegen, wird sie vermutlich die Busse, die an der Haltestelle ankommen und wieder abfahren, nicht einzeln wahrnehmen, vielmehr wird die Schnecke die aufeinanderfolgenden Busse in gleicher Weise, wie wir einen Ton aus einer Reihe von Impulsen konstruieren, als eine kontinuierliche Linie sehen. Sie verschmelzen gewissermaßen zu einem einzigen, stabilen, substantiellen Objekt, dessen Dichte sich verändert!
Ein Insekt, das selbst schnell und kurzlebig ist und über einen hochentwickelten Sehapparat mit einer extrem hohen zeitlichen Auflösung verfügt, wird jeden einzelnen Bus als eine Sequenz verschiedenfarbiger Lichtimpulse empfinden und nicht als etwas Körperhaftes wahrnehmen, jedenfalls nicht als ein stabiles Objekt, das wir Bus nennen.
Um Zeit tönend erlebbar zu machen, kann man sich bestimmter musikalischer Mittel bedienen, die mit den beiden oben beschriebenen, völlig konträren Modellen der Wahrnehmung vergleichbar sind: 1. kontinuierliche Glissandi oder lang ausgehaltene Töne und 2. Figuration oder Ornamentierung.
Verschiedene Instrumente mit unterschiedlichen Eigenschaften und verschiedene Interpreten mit unterschiedlichen ästhetischen Ansätzen bedienen sich dieser unterschiedlichen Mittel und Techniken. Manchmal kann ihre Kombination zu musikalisch bedeutungsvollen Ergebnissen führen – und manchmal kann ein paradoxes Phänomen generiert und wahrgenommen werden: Ein „stabiler“ Klang scheint in flirrende Bewegung versetzt, während eine Folge von Tönen bewegungslos erscheint.
Klaus Lang
... was hätte der Musiker uns schon zu sagen?
Das fragt sich und uns Michel de Montaigne, während er um 1585 an seinen „Versuchen“, den Essais, weiterarbeitet und nachdem er darauf hingewiesen hat, dass die Welt aus „ungleichen Tönen“ bestehe. Wie aber setzt man die ungleichen Töne so zueinander in Verbindung, dass sie uns tatsächlich etwas erzählen? Montaigne schreibt kein Lehrbuch über das Musikmachen, sondern hat das Große und Ganze des Unterschiedlichen, des fein Abgestuften ebenso wie des Gegensätzlichen im Auge. „Unser Leben ist wie die Harmonie der Welt aus Gegensätzlichem gefügt, aus ungleichen Tönen: weichen und harten, hellen und dunklen, sanften und strengen. Ein Musiker, der nur die einen liebte – was hätte der uns schon zu sagen?“
Zu fragen haben sich das die Musizierenden selbst. Welche Klänge, welche Strukturen, welche Kombinationen aus weich, hart, hell und dunkel evozieren welche sanften oder strengen Bedeutungsübertragungen in uns, die zuhören? Welche Bedeutung ist einem Klang eingeschrieben, wie lockt man diese Bedeutung nicht nur heraus, sondern bezieht sie zugleich auch in einen Diskurs mit anderen Klängen, mit dem Kontext, mit dem Ganzen ein? Noch einer, der kein Lehrbuch über das Musikmachen oder Musizieren geschrieben hat, sondern über das Denken nachdachte, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das dafür so wichtige Bewusstsein, auf ein Wahrnehmen des schon Vorgegebenen an Zartem wie Heftigem. Wir lauschen hinein in eine Diskussion und soeben ist Jean-François Lyotard am Wort: „Es gibt so etwas wie ein Verschachteltsein von Musizieren [Denken] und Leiden. Wörter, Sätze im Vollzug der Schrift, latente Töne und Klänge am Horizont des Malens und des Musizierens, habt ihr gesagt, bieten sich unserem Zugriff an und entziehen sich ihm zugleich. Und noch dann, wenn sie schon dem Blatt oder der Leinwand eingeschrieben sind, ‚sagen‘ sie etwas anderes als das, was sie ‚sagen wollten‘, weil sie älter sind als die je gegenwärtige Intention, aufgeladen mit früheren Verwendungen, verbunden mit anderen Wörtern, Sätzen, Tönen, Klängen.“(1)
„Daraus genau entsteht ein Feld, eine ‚Welt‘, die ‚gute‘ Menschenwelt, von der ihr spracht, die uns dann aber doch mit der opaken Zone ihrer Hintergrund-Horizonte konfrontiert. Wenn man glaubt, Musizieren [Denken] als Selektion aus ‚gegebenen‘ Daten und deren Artikulation beschreiben zu können, dann verschweigt man die Wahrheit: Die Daten sind nicht ‚gegeben‘, sondern können ‚gegeben sein‘, und die Selektion vollzieht sich nicht als ein Wählen. Wie Schreiben oder Malen ist Musizieren [Denken] eigentlich nichts anderes als das Kommen-Lassen dessen, was gegeben sein kann.“
Eben nicht dessen, was gegeben ist, sondern was gegeben sein kann:
Die Rede ist von einem Leben in philosophisch-musikalischer Möglichkeitsform. Das legt nahe, an ein Musizieren ohne ein den Text vorgebendes Notenblatt oder eine Partitur zu denken. Ob nun Klaus Lang und Dafne Vicente-Sandoval klangliche und energetische Zwischenräume ausloten, ob das Trio Radian seine mikroskopisch genaue Vorplanung in rigorose Direktheit der Klangintensität überträgt, ob The Necks mäandernd Essenzen des Jazztrios ins 21. Jahrhundert filtern und zugleich auffächern: All diesen Formen des Musizierens ist eine permanente Möglichkeitsform eingeschrieben, deren Voraussetzung jedoch penible strategische Schritte im Umgang mit Idee und Absicht, mit Klang und seiner Bedeutung, mit Filtern, Strukturieren, (Zwischen-)Speichern und vor allem mit diversen Übertragungsmechanismen sind. Es geht um jeweils verschieden ineinander geschachtelte Schrittfolgen; um Schritte, die als solche nicht neu sind, in ihrer konsequenten Anwendung, Auffächerung und Hinterfragung aber doch das Musik-Erfinden neu definieren: die Notwendigkeit eines kontextuellen Filters, das Entwickeln von freien musikalisch tragenden Strukturen und die Möglichkeiten des Speicherns, Wiederholens und Übertragens und zwar in jeweils unterschiedlichen, kausalen und temporären Abhängigkeiten. Das Potential der Übertragung von Bedeutung von einem Rahmen in einen anderen zwecks Produktion einer Differenz mit Narrationspotential ist die Grundlage dieser künstlerischen Strategien. Oder um es an einer konkreten Arbeitsmethode der Musikerin Dafne Vicente-Sandoval mit ihrem Fagott zu exemplifizieren: Indem sie die „Grenzen der Kontrolle und damit eine Instabilität der Klänge ihres Instruments“ ausreizt, gelangt sie „zu einer paradoxen Präsenz von Zerbrechlichkeit und Intensität“. Mit einer Voraushörbarkeit zu spielen, indem gleichzeitig genau deren Grenzen ein Erzählpotential offenlegen, lässt das Fragile dieser Klänge zu einer musikalischen Struktur werden, serviert den mitgedachten Filter im Duo gleich auf einem kontextuellen Silbertablett mit, gewinnt aus dem Spiel mit der (Un-)Möglichkeit des exakten Wiederholens genau jenes Drama, das in seiner Übertragung ins Zusammenspiel mit dem Harmonium von Klaus Lang tragende Erzählstrukturen sich entwickeln lässt.
Fein hineingehört und mit Hilfe von Hör- und Denk-Kompagnons wie Michel de Montaigne und Jean-François Lyotard wahrgenommen, wird die Musik von Lang und Vicente-Sandoval ebenso, wenn auch ganz anders als die Musik von Radian und The Necks, zu einer Musik „aus ungleichen Tönen: weichen und harten, hellen und dunklen, sanften und strengen“. Und gerade weil diese „älter sind als die je gegenwärtige Intention, aufgeladen mit früheren Verwendungen, verbunden mit anderen Wörtern, Sätzen, Tönen, Klängen“, können diese Musiker daraus ihre je eigenen Geschichten destillieren und diese uns erzählen. (2)
Christian Scheib
(1) Jean-Francois Lyotard, „Ob man ohne Körper denken kann“, in: Materialität der Kommunikation, Hg von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, S. 813
(2) Das Zitat von Michel de Montaigne entstammt dem Kapitel „Über die Harmonie“ aus dem dritten Buch seiner Essais, zitiert nach Michel de Montaigne, Von der Kunst, das Leben zu lieben, herausgegeben und übersetzt von Hans Stilett, Eichborn, Frankfurt 2005, S. 12