hardcore Biedermeier.
1.
Hermeneutik
Stellen wir uns vor wie in ferner Zukunft ein Paleoanthropologe vom Mars einen spektakulären Fund auf einem völlig unbedeutenden kleinen Planeten macht, auf dem eine relativ bescheiden entwickelte Zivilisation es immerhin geschafft hat sich selbst auszulöschen. In einer marsianischen Fachpublikation veröffentlicht er die Schilderung eines Gegenstandes der, nachdem er offenbar praktisch keinen Nutzen hatte wohl ein archaisches Sakralobjekt gewesen sein musste: Er meint einen großen und schweren Gegenstand den er deutet als eine abstrahierte vollplastische Darstellung eines großen schwarzen Fisches mit einer Vielzahl von Gräten in seinem Inneren und einem riesigen Gebiss voller abwechselnd fauler und gesunder Zähne und einer riesigen Zunge, die am Ende mit einer drei-gespaltenen goldenen Spitze versehen ist. Als Opfergaben wurden Papierblätter mit seltsamen Punkten und Linien dargebracht. Zur Untermauerung seiner Deutung führt er an, dass in eindeutig als Sakralräumen definierten Gebäuden der gleichen Kultur sich viele Hinweise auf die Verehrung von heiligen Tieren wie Tauben, Schlangen, Ochsen, Eseln und eben auch Fischen – teilweise sogar mit Menschen im Magen – finden lassen. Ebenfalls wurde dort bedrucktes Papier geopfert.
2.
Kunst
In der bildenden Kunst gibt es die lange ehrwürdige Tradition des Stillebens und der Landschaftsdarstellung. In diesem Genre beschränkt sich Kunst darauf das Gegebene darzustellen, es abzubilden, sie versucht weder zu deuten noch sieht der Künstler seine Kunstwerke als phantastische Neucreation eines quasi gottgleichen Schöpfers. Das Ziel ist nicht die Schaffung einer neuen Realität, sondern die künstlerische Durchdringung des Gegebenen, ein Vordringen zum Kern der Realität, das sich nicht durch Deutungsversuche aufhalten lässt.
In Bezug auf den Malstil, sowohl in den „Bodegones“ (spanisch für Stilleben) als auch in der Darstellung der Stoffe und Materialtexturen der Portraits von Francisco de Zurbaran wird der scheinbar in sich widersprüchliche Begriff des mystischen Realismus verwendet. Oft hat man den Eindruck in Zurbarans Bildern wird eine Geschichte nur deshalb erzählt um Objekte abbilden zu können und nicht umgekehrt die Objekte dekorieren oder illustrieren eine Geschichte. Man denkt er malt den Heiligen oder Mönch nur um einen Grund zu haben sein eigentliches Interesse den weißen Stoff der Kutte zu malen. Die profanen Gebrauchsgegenstände, die weißen Stoffe, die Schalen und Töpfe und deren Oberflächenstrukturen werden durch Zurbarans künstlerische Kraft zum Sublimen und gerade darin liegt die Sakralität seiner Werke und nicht im Inhalt der Heiligengeschichte die erzählt wird. Gerade das Einfachste das Alltäglichste wird zum Tor in die Transzendenz indem es durch die Konzentration auf das Betrachten dessen was zu sehen ist seine durch Sprache und Denken definierte Funktion verliert. Der weiß schattierte Farbfleck hört auf von uns als „Kutte“ gedacht zu werden und wird dadurch befreit zum „reinen“ sinnlichen Eindruck.
Auch Adalbert Stifter, ein anderer Künstler dessen Werke in weiten Strecken minutiösen und realistischen Naturbeschreibungen gewidmet sind hat sich mit Töpfen beschäftig. Nach Stifters „sanftem Gesetz“ ist die Kraft die die Milch am Herd zum Überkochen bringt die gleiche, die die Vulkane zum Ausbruch bringen kann. Nicht tiefe metaphysische Spekulation, nicht verzückte Ekstase nein, die Beobachtung des heimischen Herdes lässt Stifter die Antwort auf die größten Fragen finden. Stifter sieht das Milchhäferl am Herd als Bild des Kosmos und seiner Kräfte. In der Kunst kann es Momente geben in denen dieses Bild direkt erfahrbar wird und nicht ein theoretisches Konzept bleibt – das Milchhäferl wird zum Kosmos, das lapidar Kontingente zum Erhabenen. Stifter nimmt zwar das Bild des häuslichen Herdes als Grundlage für seine Kunstanschauung in seinen Werken verlässt er aber das Innere seines Haus und erreicht – wenn auch langsam – sogar die Gletscherregionen des Hochgebirges.
Noch einen Schritt weiter geht der große italienische Maler Giorgio Morandi, der tatsächlich auch in seiner Kunst niemals seinen unmittelbarsten Lebensbereich verlassen hat und in seinem ganzen Leben nur Bilder von den Töpfen, Vasen und allerlei sonstigen Tongefäßen gemalt hat die sich in seinem Atelier befanden. Kein gesuchtes, interessantes, tiefgründiges oder vielschichtiges Sujet, sondern das allernaheliegenste wird zum zentralen Gegenstand seiner Werke. Morandis Töpfe erzählen nichts, sie werden auch nicht zum Sinnbild oder Symbol für ein philosophisches Prinzip, sie sind das was sie sind nämlich Töpfe, dargestellt in großer nüchterner Intensität.
Auch wenn es ganz nahe ist, ist es dennoch ein Gegenüber das Morandi zum Gegenstand der Kunst wird, doch auch diese Grenze wurde überschritten. Marina Abramovics Material ist das Allernächste, das Allerelementarste näher noch als die Küche oder das Atelier: Sie selbst, ihr eigener Körper. Kaum eine künstlerische Arbeit die ich in den letzten Jahren erleben konnte hat mich so tief berührt wie Marina Abramovics Performance the artist is present im New Yorker MOMA. Die Arbeit bestand darin, dass Marina Abramovic für die wochenlange Dauer der Ausstellung jeden Tag während der gesamten Öffnungszeiten regungslos auf einem Stuhl gesessen hat.
Abramovics „Gegenstand“ das heißt sie selbst wurde als solcher präsentiert ohne „bearbeitet“ oder gestaltet zu werden, ohne etwas anderes darzustellen. In äußerster Konsequenz fand Abramovic eine künstlerische Form für das, was für mich als Ziel künstlerischer Bestrebungen bezeichnet werden könnte: die Erfahrung reiner und purer Präsenz. In der Erfahrung dieser Präsenz, also diesem Verweilen im „hier und jetzt“ verschwindet das Gefühl der konkreten Verortung, das „hier und jetzt“ erlebt man an keinem bestimmten Ort, „now.here“ wird zu „nowhere“.
Auch ich habe versucht mich dem Klavier wie ein „friendly alien“ zu nähern, mir die Frage zu stellen: „Was ist das für ein Gegenstand vor mir?“; „Was für Klänge kann er hervorbringen?“ Aber im Unterschied zum intergalaktischen Wissenschaftler geht es mir eben gerade nicht um eine marsianische Hermeneutik, nicht um Deutung oder um Neudeutung, Vorurteil oder Urteil, sondern um einen Versuch der Betrachtung ohne gleichzeitige Deutung. Wenn ich für Klavier schreibe versuche ich keine Neudeutung dessen was ein Klavier ist, sondern ich versuche das Klavier darzustellen so wie es ist. Durch das Abtasten des Instrumentes entsteht die Musik als ein Prozess des Hörbarmachens des Instrumentes. Im Falle von now. here. gehe ich von einer immer gleichbleibenden elementaren klanglichen Grundstruktur aus, nämlich der Skala der weißen Tasten (und deren Schatten den schwarzen Tasten).
So wie man ein visuelles Objekt aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten kann und so wie die verschiedenen Schattenlängen der jeweiligen Tageszeiten den optischen Eindruck verändern stelle ich das klangliche Material aus verschiedenen „Hörwinkeln“ dar. Es ergeben sich immer verschiedene zeitliche Verzerrungen des gleichen Klanges in Analogie zur räumlichen Verzerrung des Lichtes. Wie ein Forscher ein Objekt entdeckt finde ich als Komponist Klänge, versuche sie aber weder zu deuten noch sie zu benutzen, um mit ihrer Hilfe etwas auszusagen – ich mache sie einfach dem Hören zugänglich. Ich sehe Musik als die Darstellung von Klang, ein Musikstück als eine Entfaltungsmöglichkeit von Klang. Ich denke, nur wenn wir versuchen einfach das zu hören was klingt, kann sich das Wunder des Hörens ereignen.