Nowhere
Nowhere

Ich habe vor ein paar Jahren für Wien Modern ein Projekt über Jani Christou realisiert, einen Komponisten, der die Frage Musik versus Leben radikal gestellt hat. Das Leben und die Performance müssen eins werden. Da ich die Musik so intensiv wie möglich mit „expressiver“ Arbeit laden, gleichzeitig mein Leben auf die Performance vorbereiten, expressiv „aufladen“ musste, filmte ich wochenlang mein ganzes Leben samt den vielen Stunden des Übens. Meine Vorbereitung wurde noch umfassender als sonst, so allumfassend wie es nur ging. Das war natürlich ein sehr beglückendes Gefühl. Nach dem Konzert hatte ich richtig Angst, keine andere Musik mehr spielen zu wollen. Ich wäre nämlich bald verhungert und für verrückt erklärt worden. So unvernünftig wollte oder konnte ich doch nicht sein …

Doch die Versuchung war groß, die eigentlichen musikalischen Fragen, die Fragen nach dem unergründlichen Übergang zwischen Musik machen und Musikmachen zu stellen – und dies nicht zwischen Bürotag und letzter U-Bahn, in der manchmal verheerenden Hektik des Konzertlebens. Ich möchte wissen, wie ein Sforzato nicht nach 20 Minuten, sondern nach 20 Stunden Pianissimo klingt. Ich möchte wissen, welche Form das Staunen über ein Werk, das Staunen über Musik überhaupt annimmt, wenn man das Werk, die Musik noch und noch und noch einmal spielt, sie zu seinem Leben macht, jenseits des eigenen privaten Vergnügens. Ich sehne mich nach einem Nowhere, einer Art heidnischen Kapelle, wo mein Leben wieder Musik werden kann, wenigstens eine kleine Woche lang noch.

Als wegweisende Mitbewohner habe ich 3 Komponisten aus 3 Generationen gewählt: Erik Satie, Morton Feldman und Klaus Lang, die in der langen Ära des Ichs am liebsten verschwinden mochten und möchten. Don‘t push the sounds around, sagt Morton Feldman. Lasst sie sein, lasst sie zu, verschwindet.

Das könnte die Lösung sein.
Wenn es eine gäbe.
Legen Sie sich am besten hin, und lassen Sie sich Zeit.

Marino Formenti


 

Morton Feldman
Texte: Morton Feldman, Textauswahl: Marino Formenti

Während meines ersten Besuches zeigte ich John (Cage, N.d.Ü.) ein Streichquartett. Er sah sich die Noten an; dann fragte er: „Wie hast Du es gemacht?“ Ich dachte an die täglichen Streitgespräche mit Stefan Wolpe und Milton Babbitt, dem ich eine Woche zuvor eine meiner Kompositionen gezeigt hatte. Ich versuchte, seine Fragen so klug wie ich konnte zu beantworten; er aber sagte: „Morton, ich verstehe kein einziges Wort!“ Und so erwiderte ich mit sehr schwacher Stimme: „Ich weiss nicht, wie ich es gemacht habe...“. .... John sprang auf und nieder, und mit der heiser-hohen Stimme eines Esels rief er: „Ist das nicht wunderbar? Ist das nicht großartig? Es ist so schön, und der weiss nicht, wie er‘s gemacht hat!“

Ich bin jetzt auf der Suche nach etwas anderem ... etwas, das nicht mehr in den Konzertsaal passt. Wenn die Musik je diesen Weg, diese Richtung einschlagen sollte, wäre das ein Paradies für den wahren Komponisten. Nur im Film ist es so, dass er da sitzt und strahlt, während 10.000 Komparsen sein Requiem singen. ...

Ich habe die Notwendigkeit eines „live“-Publikums niemals verstanden. Wegen ihrer extremen Stille wäre meine Musik mit einem toten Publikum am glücklichsten. Stockhausen fragte mich nach meinem Geheimnis: „Was ist Dein Geheimnis?“ Und ich sagte: „Ich habe kein Geheimnis, aber was ich habe, ist ein Standpunkt, und zwar, dass Klänge in hohem Maß wie Menschen sind. Wenn Du ihm Druck gibst, dann drückt er zurück. Also, wenn ich ein Geheimnis habe: Schiebe die Klänge nicht in der Gegend herum („Don‘t push the sounds around“ im Original, N.d.Ü.). Karlheinz lehnt sich zu mir rüber und sagt: „Not even a little bit?“

Und dann hatte ein junger Bursche ein Tonband mit und spielte ein Flötenstück. Und das Stück, von der Art, wie es jeder gerne hat, ein süßes kleines Stück, es fing tief an, und war dann in die Höhe gebaut. Vielleicht kam man nicht bis zum hohen C wie in Density, aber auf jeden Fall kam man wieder nach unten. Und genau das tat unser Freund. Und ich fing an, dies sozusagen zu benutzen, ich fing Feuer für die Idee und sagte: „Ist doch interessant, diese Vorstellung vom Hoch- und Herunterkommen. Kann sich jemand von Ihnen ein Stück vorstellen, das so geht wie ein „V“ mit einem hohen Anfang und einem Abstieg?“ Als ich das sagte, verließ unser junger Freund den Raum.

Er fühlte sich beleidigt. Das ist interessant. Kennen Sie Stücke, die hoch anfangen und dann nach unten gehen? – Schreiben Sie keines! Wir spielten ein Spiel, Guston und ich. Wir waren die letzten Künstler. ... Erinnern Sie sich an den Satz von Alexander Pope „Kunst um Kunst geht dahin, und alles wird Nacht?“ Wie in allen eschatologischen Vorstellungen war das Ende der Welt in Wahrheit nur das Ende eines Zeitalters.

Das „Nichts“ war für uns weniger ein philosophisches Spiel als ein entscheidender Ausgangs- und Zielpunkt. ... Es liegt auf der Hand, dass man nicht mit nichts beginnt, weniger offensichtlich ist es jedoch, dass man nach Jahren der Arbeit bei viel weniger ankommen sollte. ... Das Nichts ist keine seltsame Alternative in der Kunst. Wir werden stets mit ihm konfrontiert, während wir arbeiten. ... Wir werden mit der Tatsache konfrontiert – oder besser: diese Tatsache kristallisiert sich heraus – dass wir sehr wenig hervorzubringen und extrem wenig zu sagen haben.

Wir erfahren dann das „Nichts“ fast so wie die Kabbalisten des Mittelalters, die es, nachdem es möglich geworden war über Gott zu spekulieren, als den letzten Horizont interpretierten.

„Die Zeit ist Raum geworden und es gibt keine Zeit mehr“, sagte Samuel Beckett.



Erik Satie

Text: Erik Satie , Textauswahl: MarinoFormenti

Der Tagesablauf eines Musikers (1913)
Der Künstler muss sein Leben einteilen. Hier der genaue Zeitplan meiner täglichen Beschäftigungen: Aufstehen: Um 7.18 Uhr; inspiriert: von 10.23 bis 11.47. Ich nehme mein Mittagessen um 12.11 ein und stehe um 12.14 vom Tisch auf. Ersprießlicher Ausritt in den Tiefen meines Parks: von 13.19 bis 14:53. Erneute Inspiration: von 15.12 bis 16.07. Verschiedene Beschäftigungen (Fechten, Meditation, Reglosigkeit, Besuche, Betrachtungen, Geschicklichkeitsübungen, Schwimmen, etc.): von 16.21 bis 18.47. Das Abendessen wird um 19.16 serviert und ist um 19.20 beendet. Es folgt symphonische Lektüre, laut vorgetragen: von 20.09 bis 21.59. Das Schlafengehen erfolgt regelmäßig um 22.37. Einmal wöchentlich schreckhaftes Auffahren um 3.19 (am Dienstag). Ich esse nur weiße Lebensmittel: Eier, Zucker, geriebene Knochen; Fett von toten Tieren; Kalbfleisch, Salz, Kokosnüsse, in Milchwasser gekochtes Huhn; das Schimmlige von Früchten, Reis, weiße Rüben; Weißwurst mit Kampfer, Teigwaren, (Weiß-) Käse, Salate von Watte und gewissen Fischen (nicht die Haut). Ich koche meinen Wein und trinke ihn kalt mit Fuchsiensaft. Ich habe einen guten Appetit, doch aus Angst vor dem Ersticken spreche ich nie während des Essens. Ich atme mit Bedacht (wenig auf einmal). Ich tanze sehr selten. Beim Gehen halte ich mir die Rippen und blicke starr hinter mich. Ich sehe sehr ernsthaft aus, und wenn ich lache, geschieht es unabsichtlich. Ich entschuldige mich stets dafür, und mit Leutseligkeit. Ich schlafe nur mit einem Auge; mein Schlaf ist sehr hart. Mein Bett ist rund und hat ein Loch, um den Kopf durchzustrecken. Jede Stunde nimmt mir ein Diener die Temperatur und gibt mir eine andere. Seit langem habe ich eine Modezeitschrift abonniert. Ich trage eine weiße Mütze, weiße Strümpfe und eine weiße Weste. Mein Arzt hat mir immer das Rauchen empfohlen. Er fügt seinem Ratschlag hinzu: Rauchen Sie, mein Freund; sonst wird es ein anderer an Ihrer Stelle tun.

Audiodoku
Audio file
Nowhere by Marino Formenti © ORF musikprotokoll
Interpret/innen

Marino Formenti, Klavier
Nowhere Ute Pinter (open music), Kuratorin.
ORF Neue Medien/Neue Technologien, Live-Streaming

Kooperationen

now.here 1-7 sind Auftragskompositionen des musikprotkolls. Nowhere ist eine Koproduktion von steirischer herbst, open music & ORF musikprotokoll. In Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Graz.

Fixtermine
Folgende Kompositionen werden u. a. zu den unten angegebenen Zeitpunkten zu hören sein:

Sa 25.09
11.00: Klaus Lang: now.here 1 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Piano Pieces

So 26.09
12.00: Klaus Lang: now.here 2 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Last Pieces

Mo 27.09
13.00: Klaus Lang: now.here 3 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Piano 1977

Di 28.09
14.00: Klaus Lang: now.here 4 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Intersections

Mi 29.09
15.00: Klaus Lang: now.here 5 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Triadic Memories

Do 30.09
16.00: Klaus Lang: now.here 6 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Intermissions

Fr 01.10
17.00: Klaus Lang: now.here 7 (UA)
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: Extentions

Sa 02.10
11.00: Klaus Lang: now.here 1
18.30: Morton Feldman: Palais de Mari
21.00: Morton Feldman: For Bunita Marcus

Termine
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Location
Graz Museum
Konzert
Performance
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2010 | Nowhere