Die Teilung der Oktave in zwölf Halbtonschritte ist einer jener Kompromisse, dessen Widernatürlichkeit jedem Musikinteressierten bewusst sein dürfte, der aber ebenso wenig obsolet zu werden verspricht wie die tonale Musik, die auf ihm basiert. Gleichwohl ist das Arbeiten mit den sogenannten Mikrointervallen – also jenen Intervallen, die kleiner sind als der Halbtonschritt, dem Grundbaustein der chromatischen Tonskala – eine verlässliche Konstante der Kompositionsgeschichte im gesamten 20. Jahrhundert. Die Überwindung der temperierten Skala, die bekanntlich zu Bachs Zeiten willkürlich definiert worden war, aber auch große Dienste leistete, lag bereits in den 1910er Jahren in der Luft. Ausgehend von der ersten gleichsam systematischen Erforschung der entsprechenden Tonskalen bei dem Tschechen Alois Hába und dem Russen Iwan Wyschnegradsky wurden die Mikrointervalle Allgemeingut der Partituren, zumal dort, wo kompositorisch eine immer stärkere Differenzierung der zeitgenössischen Klangwelt angestrebt wurde.
In Österreich hat sich vor allem der Grazer Komponist Georg Friedrich Haas mit Mikrotonalität auseinandergesetzt, und zwar in erster Linie als Verfasser musiktheoretischer Schriften über Häba, Wyschnegradsky, Boulez und Nono, aber auch, indem er 1988 ein musikprotokoll zum Thema programmierte. Kompositorisch aber übte Haas in dieser Hinsicht bislang Zurückhaltung. Anstatt Mikrotonalität an sich zu thematisieren, setzt er sie seinem Komponieren voraus, um, wie im Ensemblestück ... über den Atem, die Stille und die Zerbrechlichkeit... (1994), mit ihrer Hilfe die eigenwillige Klangwelt der Schwingungen und Schwebungen bewusster steuern zu können.
Dann kam, 1995, die Anregung Karsten Witts, sich anlässlich von Wien modern '96 kompositorisch mit dem Thema „Fremde Welten" auseinanderzusetzen. Haas' erste Gedanken hierzu gingen von dem Umstand aus, dass außereuropäische Tonskalen sehr oft Mikrointervalle enthalten, sodass die angesichts der unentrinnbaren Dominanz der temperierten Tonskala noch immer fremde Welt der Mikrointervallik leicht auch geographische Fremde signalisieren kann. Doch bald erwachten in Haas Skrupel:
„So schön dieses Konzept zunächst aussah, so problematisch wurde es, sobald es sich konkretisierte: Die fremdartigen, auf den traditionellen europäischen Instrumenten falsch klingenden Intervalle wären im günstigsten Fall als reizvoll exotisch wahrgenommen worden. Der worst case hätte zu einer Abwertung des ‚Außereuropäischen‛ geführt. Zudem wurde mir immer mehr bewusst, dass die Zuordnung bestimmter Musiksprachen zu bestimmten Regionen sehr bald Klischee werden kann." Die Folge solcher Skrupel war u.a. eine Verzögerung des Kompositionsprozesses und eine Verschiebung des geplanten Uraufführungs-termines um ein Jahr.
Wenn Haas' Konzert für Klavier und Streichorchester heute noch immer Fremde Welten heißt, so wird offenbar, dass der Komponist seine ästhetischen (und natürlich auch politischen) Skrupel am Ende doch positiv löste: Fremd ist die mikrotonale Welt auch ohne Reminiszenz an Außereuropäisches. „Fremd" ist bei Haas ein objektiver Begriff, bezeichnend die Unvereinbarkeit von verschiedenen Systemen, und keine subjektive Kategorie, mit der wir das (Nicht-) Verhältnis zwischen uns und dem Anderen zu charakterisieren versuchen.
In Haas' Komposition stehen sich tonale und chromatische Klangwelten, die vom Klavier verkörpert werden, sowie verschiedene mikro-tonale Akkordsysteme der Streicher gegenüber. Die Ausgangssituation macht sich die in der Gattung Instrumentalkonzert tradierte Konfrontation zweier Prinzipien (solistisch vs. kollektives Instrumentieren) zunutze, radikalisiert sie aber: Hier das Klavier in gewohnter temperierter Stimmung, dort die Streicher, die (fast) ausschließlich leere Saiten bzw. die auf diesen aufbauenden, nicht-temperierten Flageolett-Töne (Obertöne) spielen. Zudem ist jedes einzelne Streichinstrument anders gestimmt, wobei Viertel- und Achteltöne sowie die Orientierung an der Obertonreihe eine große Rolle spielen. Hier der konventionelle Klavierklang, der durch stetes Ostinatospiel – trotz des durchgehaltenen Pedals – auf geradezu brutale Weise den (immer schneller werdenden) Puls des Stückes markiert, dort ein silbrig schillerndes Klangbild, fragil, überirdisch – „fremd". Haas' Komposition aber ist kein tönender Diskurs über das, was die Systeme grundsätzlich trennt oder verbindet, sondern ein neugieriges Spiel mit dem engmaschigen Netz temporärer Bezugspunkte zwischen den Systemen – Punkte, die sich finden, um sich sofort wieder zu verflüchtigen.
„Der Streicherklang wird dadurch verfremdet, dass die Instrumente eine Eigenschaft des Klaviers (Umstimmen der Saiten, von deren Tonhöhen dann nicht mehr abgewichen werden kann) übernehmen. Umgekehrt wird der Klavierklang dadurch verfremdet, dass durch rasche Tonrepetitionen mit Pedal eine Annäherung an den Klang der kontinuierlich schwingenden gestrichenen Saiten erreicht wird. Die Töne des Klaviers werden von den Streichern aufgegriffen, die der Streicher vom Klavier – durch die unterschiedlichen Intonationen kann dies aber nur an wenigen Berührungspunkten genau der Fall sein, ständig gibt es Abweichungen, Reibungen, Abgleiten, Hinscheiden - und gerade darin wird der Reiz des Stückes liegen." (Haas)
„Fremde Welten" selbst innerhalb der Streicher: Den ersten von drei Abschnitten des knapp halbstündigen Werkes prägen vier verschiedene Obertonakkorde. In ihrer Mitte schimmern gelegentlich sieben verschiedene, von Haas als „Wyschnegradsky-Akkorde" titulierte Harmonien: Türme von Quinten, die um einen Viertelton verkürzt sind, d. h. halbierte kleine Nonen. Deren metallenes, zunächst scheinbar „falsches" Klangbild dominiert dann den zweiten Abschnitt, während der letzte Abschnitt von einem c-moll im Klavier eingeleitet wird, dessen Vertrautheit nun, nach allem, was geschah, seltsam fremd erscheint.
Christoph Becher