Großdimensionierte, dreiviertelstündige Werke und deren spektakuläre (Ur)Aufführungen prägen das heurige Musikprotokoll (Bernhard Lang, Gerard Grisey, Clemens Gadenstätter), dazu erklingt im Grazer Congress eine Auswahl von arriviertem Zeitgenössischem (György Kurtäg, Salvatore Sciarrino, Brian Ferneyhough), zu entdeckende junge Künstlerinnen (Marina Rosenfeld, Paul Steenhuisen, Dieb 13, Radian) sowie neue, exquisite Solo-, Kammer- und Orchestermusik (Christian Fennesz, Beat Furrer, Rupert Huber, Tom Johnson). In Kooperation mit dem CulturCentrum Wolkenstein erfolgt die Präsentation von Robert Ashleys neuer Oper in Stainach, während im Grazer Theatro von Donnerstag bis Samstag nach den Konzerten jeweils die Musikprotokoll-Bar öffnet (Depth Charge, DSL, Tosca). Zu den Konzerthöhepunkten des Musikprotokoll zählen 1999 jene zwei großen - groß schon in der Besetzung wie in der Dauer - Werke, die als gemeinsame Kompositionsaufräge von ORF-Musikprotokoll, steirischer herbst und Salzburger Festspielen vergeben wurden: Das Orchesterstück "auf takt" von Clemens Gadenstätter, sowie das Werk für Solisten, Ensemble und Video "Differenz/Wiederholung 2" von Bernhard Lang.
Ende vergangenen Jahres war es ein Schock für die Welt der zeitgenössischen Musik, als sich die Nachricht vom Tod des erst 52jährigen Gerard Grisey verbreitete. 1996 war Gerard Grisey in Graz beim Musikprotokoll gewesen, als das ensemble recherche eine faszinierende Wiedergabe seines damals neuen, großen Kammermusikwerkes "Vortex Temporum" spielte. Die heurige Musikprotokoll-Aufführung des vierteiligen Zyklus für großbesetztes Ensemble und solistischen Sopran mit dem Titel "Quatre Chants pour franchir le Seuil" war im Gespräch und wurde nach Gerard Griseys Tod zu einem nicht als solchem geplanten in memoriam, umso mehr als die "Vier Gesänge, um die Schwelle zu überschreiten" eine vierzigminütige "Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit des Todes" sind, wie Gerard Grisey in seinem Werkkommentar schrieb. Die Aufführung von Gerard Griseys letztem Werk in Graz ist nicht nur die österreichische Erstaufführung, sondern auch die erste Auseinandersetzung des Klangforum Wien und Sylvain Cambrelings mit diesem Werk.
"Form - Luxus, Kalkül und Abstinenz. Fragen, Thesen und Beiträge zu Erscheinungsweisen aktueller Musik" heißt eine Publikation zum Musikprotokoll 1999, in der die Musikprotokoll-Künstler sowie einige Theoretiker sich zum Thema "Form" äußern. Der Begriff "Form" hat seinen früheren Stellenwert in der Diskussion und Theorie über Musik verloren: Im traditionellen Sinn vorgegebene Form scheint definitif obsolet und als ein Begriff, der ein Verhältnis der strukturierten Schallwellen zur Welt beschreibt, ist "Form" nicht entwickelt worden. Die Vielfalt der Aspekte von Form beschreiben heute Begriffe wie Struktur, Material, Medien, Entwicklung, Prozeß, Verlauf, Fluß, Erscheinung, Algorithmus, Grammatik, Dramaturgie. Den Begriff der Form wiederaufzugreifen zielt darauf ab, diese unterschiedlichen Perspektiven ineinanderzublenden.
Marina Rosenfeld legt Platten beim Musikprotokoll auf, das tut auch Richard Dorfmeister, wenn er im Duo mit Rupert Huber als Tosca spielt. Clemens Gadenstätter läßt das Große Orchester in seinen Möglichkeiten wuchern, während Tom Johnson mit ebendiesem die einstimmige Mehrstimmigkeit erprobt - mit dem RSO-Wien unter Arturo Tamayo. Bernhard Lang greift mit Dirigent plus Ensemble -Klangforum Wien mit Sylvain Cambreling - plus mehrere Solisten aus mehreren Kulturkreisen plus Video plus etc ins Volle, während Dieb 13 wiederum zurückgreift auf Vinyl. Beat Furrer und Christian Fennesz treffen einander und andere zum öffentlichen Gespräch; via Computer beziehungsweise Kammerensemble - ensemble recherche - sind ihre jeweils neuesten Stücke zu hören. Das Trio Radian strukturiert instrumentale Betriebsgeräusche, der junge Kanadier Paul Steenhuisen Instrumentalattacken. Ur- und Erstaufführungen von Gerard Grisey, Salvatore Sciarrino, Brian Ferneyhough, Tom Johnson und György Kurtag verankern die Konzerte im schon anerkannt Qualitätsvollen. Zum Wochenabschluß singt und spielt Robert Ashley mit seinen Freunden im ccw/Stainach, während zum jeweiligen Tagesabschluß die Musikprotokoll-Bar im Theatro öffnet, wo donnerstags Depth Charge, freitags DSL und samstags Tosca auftreten.
Form ist the propriatorial signature of the world on the artist's flesh, permit-ting the signature of the artist on the body of the work.
Brian Ferneyhough, 1999Form is inevitable. Another conversa-tion might be about situations, which are really complexes of possibilities. l like the idea of producing a Situation that, before it disappears, produces a Situation, that produces a Situation, that produces a Situation. Proliferati-on, bounty. Music is ephemeral anyway.
Marina Rosenfeld, 1999Form ist unausgesprochene Selbstreferenz. In systemtheoretischer Diktion ist Form die Einheit der Unterscheidung, was bedeutet, daß die Differenz selbst die Form ist.
F.E. Rakuschan, 1999