musikprotokoll 1997

... spüren wir den Nachklang der Information: Bildungsexplosion -Hunger in Biafra, Mao-Mao-Mao -Jacqueline Onassis; Halten verboten, Rauchen verboten, Eintritt verboten, Ausfahrt verboten, lange Haare verboten - Reden erlaubt: Hochgeehrte Versammlung, Herr Präsident, Herr Verwaltungsrat, am Beginn meiner Ausführungen, am Ende meines Vertrages, im Bewußtsein der Bedeutung, ein erhebender Augenblick, und es ist uns ein Bedürfnis, lang lebe das Brautpaar -Atombombentest. Mit einem furiosen, assoziativen Staccato als Festrede eröffnete der Gründer des Festivals Musikprotokoll -Emil Breisach - dessen erste Ausgabe 1968.

1997 gilt es, das dreißigste Musikprotokoll zu feiern: Am Mittwoch, den 1. Oktober hält zur Eröffnung der Schriftsteller Gert Jonke die Festrede und anschließend dirigiert Friedrich Cerha sein neuestes Werk. Noch einmal zurück in die Zukunft von 1968: ... Repressive Toleranz, Establishment, Apo, Jan Palach - Dubcek, Smrkovski, Kohout, John Lennon, Yoko Ono, Schranz, Björregard, Orsolitsch -Relativitätstheorie, Quantentheorie, Molekularbiologie, Genetik, Elektronik, Kybernetik - Haschisch, Marihuana, LSD - Weststeirischer Herbst, Obstproduktion, Fruchtsaftindustrie, Molkereiprodukte, Landmaschinenschau, Landesräte, Spatenstich, Bundeskanzler -steirischer herbst, Trigon, Malerwochen, Akademie, Literatursymposion, Musikprotokoll, Krenek, Ligeti, Penderecki, Canetti, kein Bundeskanzler... dann aber wird die Begegnung mit Kunst und Musik zum Naheliegenden, zum Erstrangigen, zum Mittel notwendiger Sensibilisierung, zum Beheimatetsein inmitten der primären Realität, in den "Dimensionen der Zeit und der Stille", wie Penderecki eines seiner Werke nennt, in den "Couleurs de la Cite celeste", die Messiaen beschwört...

Die Verknüpfung von Zeit und Musik, also zeitgenössische Musik im Wortsinn, war damit proklamiert und das wurde Tradition im Musikprotokoll, eine Tradition des permanenten Aufbruchs und Risikos. Essenz dieser Art von Tradition ist die Veränderung, manchmal in feinen, wenn auch entscheidenden Schattierungen: Sensibilisierung und Besinnung auf Kunst inmitten einer turbulenten Zeit lautete zu Beginn der Konsens, verschoben hat sich die Balance in Richtung Sensibilisierung und Bereitschaft für eine turbulente Zeit durch Kunst. Neuronale Netzwerke sind 1997 Ausgangspunkt für Musik und Inszenierung in aus den Tiefen von Sinnen, einer Performance der österreichischen Komponistin Elisabeth Schimana; der britische Gitarrist Derek Bailey - Doyen der freien Improvisation - riskiert zuerst ein Duo mit der chinesischen Pipa-Spielerin Min Xiao-Fen, am Tag darauf spielt er im Trio mit zwei DJs; das Arditti String Quartet erforscht feinste Klangschattierungen mit vier umgestimmten Instrumenten in Georg Friedrich Haas' 1. Streichquartett sowie in James Tenneys Cognate Canon; Chefdirigent Dennis Russell Davies und das Radio Symphonieorchester Wien inkludieren 27 Spieldosen in ihr Instrumentarium, um Rebecca Saunders* neues Werk zur Erstaufführung zu bringen; zwei zeitgleich in Berlin und Graz konzipierte Konzerte von Josef Klammer und Seppo Gründler sind via Radio und Fernsehkanäle miteinander verknüpft. Den aktuellen Stand der zeitgenössischen Komposition bringen Werke von Hanspeter Kyburz, Antonio Pileggi, Wolfgang Liebhart, Peter Ablinger, lsabel Mundry zu Gehör, als cultural clash ist die Improvisation von The Comforts of Madness konzipiert mit Helge Hinteregger, Kazuhisa Uchihashi, Roger Turner und Heinz Ditsch. Das Programm des Musikprotokolls will herausfordernd und unverwechselbar sein, ein Kunst-Abenteuer. Künstlerisch verfolgt das Programm des Musikprotokolls eine Doppelstrategie: Bei einer weiten Auffächerung der Genres sollen innerhalb jedes einzelnen davon kompromißlose Künstler vorgestellt werden, die - und das trifft auf Friedrich Cerha, James Tenney und Derek Bailey ebenso zu, wie auf die Jungen - sich ganz einer persönlichen und konsequenten Vision von Kunst verschrieben haben. Kulturpolitisch ist die Positionierung des Musikprotokolls ebenfalls seit dreißig Jahren eine spannungsgeladene: Als alljährlicher Beitrag des ORF (Österreich 1 gemeinsam mit dem Landestudio Steiermark) zum steirischen herbst sind einige Spannungsfelder vorgezeichnet: regional und international, Tradition und Experiment, Spektakel und Kunst, Einheit und Differenz. Als kulturpolitische Zielsetzung dient der Versuch, diese vorgeblichen Gegensätze ineinanderfallen zu lassen: Die Region als selbstverständlicher Bestandteil der internationalen Szene, das Beibehalten einer Tradition des Experiments, die Integrität der Kunst als gesellschaftliches Ereignis, und Einhelligkeit in der Differenz. Einen gesellschaftlichen Rahmen für neue Musik zu schaffen, in dem das Erarbeiten, Vorstellen und Bewerten dieser Kunst möglich und nachvollziehbar ist, sowie der zeitgenössischen Musik als Labor und Forum zu dienen, ist das Ziel des Festivals Musikprotokoll während des Aufbruchs in sein viertes Jahrzehnt. Über dreißig Jahre hinweg ändern sich viele Aspekte der Rollen und der Funktionen, die ein Festival im internationalen Kontext übernimmt. Zumindest zwei Charakteristika scheinen verhältnismäßig konstant: Das Musikprotokoll ist ein Festival mit über die Jahre hinweg kontinuierlich starkem österreichischen Anteil, gemischt mit Werken renommierter Komponisten aus aller Welt. Das Musikprotokoll verstand und versteht sich als alljährlicher Seismograph künstlerischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Das Wechselnde, die Farbe und Eigenheit der Geschichte einzelner Jahre und der Geschichten einzelner Aufführungen aber ist es, das die Essenz des Musikprotokolls ausmacht.

Seit dreißig Jahren zeichnet jedes Jahr sein Bild von sich selbst: 1968 der große Aufbruch als ein Protokoll der neuen Musik der Trigon-Länder, 1970 Edgard Varese als (damals noch) graue Eminenz der neuen Musik, das Weltmusikfest der IGNM im (vergrößerten) Rahmen des Musikprotokolls 1972, Futurismus 1973, die Zeit der Personal-Retrospektiven von 1974 bis 1984 mit Zemlinsky, Schreker, Skrjabin, Krenek, Wellesz und Ligeti, die rund um die Mitte der 7oer Jahre aktuellen Wandel-, Mitmach- und Aktionismuskonzerte, das der mikrotonalen Musik gewidmete Jahr 1988, der erneute Aufbruch unter dem Titel Revolutionäre Prozesse 1989 mit dem zusätzlichen Scelsi-Schwerpunkt, 1992 das Amerika-Jahr, 1995 und 1996 Das Rauschen und Camouflage. Und in jeder dieser Geschichten verbergen sich die entscheidenden einzelnen Auftritte und Aufführungen: Lux Aeterna von György Ligeti als Eröffungsstück des ersten Musikprotokolls; Mauricio Kagel mit seinem Ensemble als herausfordernder Gast in Graz 1969, als auch Roman Haubenstock-Ramatis Multiples uraufgeführt wurden; 1970 konnte Edison Denisow in den Westen reisen, um die Uraufführung von Peinture mitzuerleben und Darius Milhaud komponierte für das Musikprotokoll eine Musique pour Graz; dann die Uraufführung des Gesamtzyklus der Spiegel von Friedrich Cerha 1972, das Jahr, in dem auch Witold Lutoslawskis Cellokonzert mit dem jungen Heinrich Schiff auf dem Programm stand; 1974/75 improvisierten Nuova Consonanza und Reform Art Unit, experimentierten Zygmunt Krauze und Robert Moran, Krzysztof Penderecki und Luigi Mono waren zu Gast in Graz; Gerhard Rühm, Otto M. Zykan, Kurt Schwertsik und Heinz Karl Gruber stellten im Laufe der 7oer Jahre ihre höchstpersönlichen Handschriften vor; die Uraufführung der Gesamtfassung von Luciano Berios Coro 1977, von Luna Alcalays Poemes 1978, von Alfred Schnittkes Minnesang 1981; Milko Kelemen gestaltet 1979 seine Apokalyptica; Dieter Kaufmann, Melvyn Poore und Vinko Globokar hinterfragen auf je sehr verschiedene Weisen Haltungen zu Musik, Gesellschaft und Konzertbetrieb, im Grazer Dom gelangen 1983 zwei Werke von Arvo Part zur Uraufführung. Ein Generations- und Ästhetikwechsel zeichnet sich ab: Uraufführungen von Thomas Pernes und Wolfgang Rihm verändern in den späten 7oer und frühen 8oer Jahren das Bild, 1984 und 1986 stehen nochmals im Zeichen György Ligetis beispielsweise mit der Uraufführung des Klavierkonzerts; Ultimi Cori von Beat Furrer, Kondukt/-Sprengung von Nicolaus Richter de Vroe, Chaque jour n'est qu'une treve entre deux nuits... von Michael Jarrell oder ma-um von Younghi Pagh-Paan in den Jahren 1989/90, sowie weitere Uraufführungen in diesen und den folgenden Jahren von Karlheinz Essl, Gerd Kühr, Georg Friedrich Haas vollziehen endgültig die Wiederbesinnung des Musikprotokolls auf aktuelle Musik der jungen und mittleren Generation. Die Scelsi-Nacht 1989 erneuert auf beeindruckende Weise die Tradition der Personale als musikhistorische Entdeckung, zwölf Schlagzeuger umkreisen mit ihrem Spiel im selben Jahr das Publikum in Adriana Hölszkys Karawane; mit Der Weltbaumeister, Blaugrau bleibt blaugrau, und Art Reflexe bricht das Musikprotokoll 1992/93 auf in intermediale und (halb)szenische Räume, Olga Neuwirth schreibt drei Uraufführungen für Graz, Lonicera Caprifolium 1993, Sans So/e/7 1994 und Akroate Hadal 1995; Persönlichkeiten dieser Generation und anderer Kunstszenen setzen seit Mitte der 9oer Jahre den Weg des Musikprotokolls mit Kompositionen, Installationen, Improvisationen fort: Ensemblemusik steht neben Internet, freie Improvisation neben Orchesterwerken, Modenschau neben Streichquartett: Kunst von und mit Rebecca Saunders, Silvia Fomina, lsabel Mundry, Andrea Sodomka, Elisabeth Schimana, Mayako Kubo und Chaya Czernowin, Robert Ashley und Alvin Lucier, Bernhard Lang und Peter Ablinger, Wolfgang Mitterer, Klammer&Gründler, Jochen Traar, Winfried Ritsch und Robert Höldrich, Klaus Lang, Hanspeter Kyburz...

Diese Bestandsaufnahme nach dreißig Musikprotokollen beeindruckt durch Heterogenität, durch Unterschiedlichkeit, durch Brüche. Vielleicht ist das auch der einzig gemeinsame Nenner: In Geschichte und Gegenwart des Musikprotokolls spiegelt sich gleichermaßen nicht nur Kunst und Zeit, Anspruch und Qualität, Aufbruch und Resümee, sondern vor allem Differenz, Genuß, Widerspruch, Andersartigkeit, also Eigenständigkeit und Eigenheit. Darin liegt auch die Zukunft dieses Festivals: Als ein Symptom, das immer schon aus der Zukunft zu kommen scheint, fordert es nicht nur zur Auseinandersetzung heraus, es ist als zeitgenössisches Ereignis immer auf jene Interpretation durch Hörer angewiesen, die sich in ihrer Gegenwärtigkeit notwendigerweise als Prophetie versucht.

Christian Scheib