„Kunst als Strategie der Vergewaltigung, des Hasses; Kunst als Täuschung, als Fiktion, als Lüge; Kunst als trügerischer Schein, also als „Schönheit": Diese eruptive Skizze zu einer Kunsttheorie entstammt der Vilém Flusserschen Beschreibung eines fiktiven, krakenähnlichen Tiefseewesens, des Vampyrotheutis lnfernalis, erfunden von Louis Bec. Diese kunsttheoretische Parodie - im mittelalterlichen Wortsinn - ist bitterernst. Denn sie handelt von einem Archetypus der westlichen Kunst dieses Jahrhunderts, von der Faszination an der Schönheit im Abgrund und des Abgrunds. Ob Beckett oder Bacon oder Messiaen, sie zelebrierten eine Schönheit des Abgrunds oder abgründige Schönheit. Die andere Seite der Medaille der jüngeren Kunst ist eine in gewissem Maße didaktisierende Gelassenheit von Duchamp zu Cage und War hol, doch davon weiß Vampyrotheutis lnfernalis so wenig wie wir das Dunkel unserer eigenen Tiefen wahrnehmen wollen. Doch genau um ein Wahrnehmungssensorium für diese Tiefen zu entwickeln, wurde die Fabel vom Tiefseewesen geschrieben.
Die Komponistin Olga Neuwirth wählte als Titelgeber ihrer jüngsten Arbeiten ebendiese Fabelwesen. Zwei Jahre zuvor wurde eine unermüdliche Schling pflanze, die Lonicera Caprifolium, zur werktitelgebenden Metapher. Die Fabeltierwesen der Gattung Vampyrotheutis sind in ihrer skelettlosen Beweglichkeit und ihrer Liebe zum hemmungslosen Verschlingen ein ideales Bild für Olga Neuwirths Musik. Wegen der Skurrilität und vor allem wegen der Artifizialität dieser Wesen treffen sie die Essenz Olga Neuwirths Musik noch genauer als die vorhin erwähnte Schlingpflanze.
Mit Klängen von präparierten Geigen und Cellosaiten beginnt das Spiel der "Akroate Hadal" und verfremdet, verzerrt wird es auch wieder enden. Die Präparierung als Gegensatz zum traditionellen Spiel beinhaltet in diesem Fall noch eine historisierend-semantische Komponente: der verzerrte, unreine Ton ist Sinnbild von Künstlichkeit, von Abnormalität. Die Vorstellung des Artifiziellen setzt dieses Stück ebenso in Gang wie insgesamt die musikalische Phantasie von Olga Neuwirth selbst. Es gibt ohnedies keine logisch-natürliche Welt, der Glaube daran ist hilfreicher Selbstbetrug. Die Musik, die Kunst erforscht also das Energiepotential dieses trügerischen Scheins, versucht den Antrieben und Trieben des Ungewußten und Nichtvorhersehbaren neue Facetten abzugewinnen, zeichnet ein Bild der ständigen Veränderung unter stärkstem Druck, widmet sich verschrobener Arti fizialität als Sinnbild menschlicher Abgründe.
Die relative Homogenität eines Streichquartettklangs steht quer zu Olga Neuwirths Besetzungsvorlieben der letzten Zeit. Die durch heterogene und auch räumlich verteilte Ensemblegruppen zuckende Bewegung und Aufsplitterung jenes Werks "Vampyrotheone", das kommende Woche in Donaueschingen zur Uraufführung gelangt, ist im Streichquartett ins Innere verlagert, verinnerlicht. "Akroate Hadal" windet sich um sich selbst herum, verwindet sich. Die durch alle Präparierung hindurch deutliche Homogenität des Streichquartetts verhilft diesem Wesen zu einer paradoxen Künstlichkeit, der jegliche kontrastierende Hintergundfolie einer akustischen - wenigstens fiktiven - Normalität abgeht.
Bewegungen lösen weitere Bewegungen aus, doch in keiner nachvollziehbar erscheinenden Konsequenz. Eine Windung hier scheint wohl irgendwie aus gelöst von einer Zuckung dort, doch die vier Stimmen - als Fangarmindividuen?
- sind viel zu eigensinnig, als dass ein gemeinsames Ziel der Bewegungen formuliert werden könnte. Ein einziges Mal bündelt sich die Energie der "Akroate Hadal" zu einer kollektiven Sechzehntelseptolenpassage, um als energetischer Anstoß zu weiterer Bewegung zu fungieren. Die Harmonik des Stücks scheint ebenfalls infiziert von den unregelmäßig pulsierenden Veränderungen des Dichtheitsgrades. Geballte, komplexe Schichtungen unterbrechen Passagen einer auf wenige Bezugstöne reduzierten harmonischen Grundlage, im stetigen Verwandlungsprozess klaffen Löcher im harmonischen Verlauf. "Akroate Hadal" (und auch der Ensemblevetter „Vampyrotheone") sind skelettlos, ein wandelbarer Mollusk, schnell, sprunghaft und maßlos. Die Harmonik verleiht dieser Komposition eine dies bezüglich adäquate Körperlichkeit. Dieses akustische Fabeltier kommt niemals zur Ruhe, windet sich rund um alles in seiner Nähe und um sich selbst, und saugt vor allem seine eigenen klanglichen Charaktere und Anregungen wie der in sich auf.
„Man könnte sagen, dass die Bewegung einen Spannungsunterschied voraussetzt, den sie auszugleichen sucht", schreibt Gilles Deleuze in einem Text über Henri Bergson, der Bergsons Schlussfolgerungen daraus behandelt, dass es ein Ganzes nicht gäbe: „Wenn das Ganze nicht bestimmbar ist, dann deswegen, weil es das Offene ist und die Eigentümlichkeit hat, sich unaufhörlich zu verändern oder plötzlich etwas Neues zum Vorschein zu bringen, kurz, zu dauern". Der Inhalt von Olga Neuwirths Musik ist damit beschrieben: Dauer ist nicht etwas, während dessen etwas anderes passiert, eine thematische Entwicklung, eine Klangfarbenexploration, was immer. Dauer, also eine konstituierende Konstante des Klingens selbst, ist als sie selbst das Thema dieser Musik, eben in jenem Bergsonschen Sinn, dass „man jedesmal auf die Existenz eines sich verändernden und irgendwo offenen Ganzen schließen kann, wenn man sich vor oder innerhalb einer Dauer befindet" (G. Deleuze). Die akustische Gestaltung rastloser Veränderung und Bewegung ist sich selbst Thema insofern, als sich in synchron gestalteten Dauern der Blick auf die nur aus Relationen zueinander bestehende Welt öffnet. Die skelettlose Beweglichkeit und Unvorhersehbarkeit mehrerer kompositorischer Schichten ist die prinzipielle Verhältnismäßigkeit der Wirklichkeit. Das durch Bewegung, also Veränderung, also Dauer definierte und notwendigermaßen offene Ganze entsteht in Olga Neuwirths Musik aus Klang, aus dem Klang abgehörten Eigenschaften und willkürlichen Eingriffen. Diese Kompositionen sind eine groteske Geisterbahnfahrt als Abbild des Ganzen in seiner hilflos machenden Relationalität von Wirkungen. Grotesk gestaltete Dauer als Thema ihrer selbst offenbart den komischen Schrecken des Zeitverlusts, und „von der Dauer selber können wir sagen, sie ist das Ganze der Relationen".
„Konkret ist die Umwelt nichts als das, was wir erleben, und wir sind kurz und gut das, wo die Umwelt erlebt wird. Es geht um ein Gewebe konkreter Relationen": Eine Klarstellung von Vilem Flusser vor der Beschreibung des krakenähnlichen Vampyrotheutis lnfernalis. Denn im Verschränktsein dieser Relationen liegt die fabelhafte Negationsanalogie dieser fiktiven Wesen mit den Menschen. Die Art der Relation von Wesen zu Welt lässt das Werk „Akroate Hadal" von der auskomponierten Dauernkompression und Expansion zu einem Ebenbild des Krakenmonsters werden. „Für uns [Menschen] sind die Objekte Probleme, die uns im Weg stehen und wir behandeln sie, um sie aus dem Weg zu räumen. Kultur ist daher für uns Projekt gegen die feststehenden Objekte, eine Befreiung vom Gesetzten (von den Naturgesetzen). Für Vampyro theutis sind die Objekte Brocken in einer Wasserströmung, die auf ihn ein stürzen. Er saugt sie an, um sie sich einzuverleiben. Daher ist Kultur für ihn ein Diskriminieren zwischen verdaulichen und unverdaulichen Brocken, d.h. eine Kritik an den Eindrücken. Nicht Projekt gegen die Welt ist Kultur für ihn, sondern diskriminierend-kritische Injektion der Welt ins Subjektinnere." Eine Komposition und insbesonders ein Kunstwerk, das die Künstlichkeit auch noch im Banner trägt, ist prototypisch für diesen eben geschilderten menschlichen Kulturbegriff des Operierens gegen oder über das Vorgegebene hinaus. Doch in sich selbst versucht „Vampyrotheone" das infernalische Gegenteil: Klänge scheinen davon zu leben, vorangegangene zu schlucken. Ihre Energie saugen sie aus der dabei gewonnen Erkenntnis. Dieserart sich unersättlich weiterbewegend „begreifen" sie die Umwelt, also die Realität des Klingens. Begreifen aber bedeutet für den Vampyrotheutis · wie für „Akroate Hadal" - Greifen im Wortsinn: Was nicht gefühlt, geschluckt, betastet, begriffen ist, ist nicht kulturell wahrgenommen. Als Gegenbild des Menschen - „erhobene intelligente Bäuche, nicht erhobene Gehirne; nur ist bei ihnen das nach unten [in die Körpermitte] gewanderte Gehirn komplexer als das unsere" - begreift dieses Wesen ganzkörperlich. Spüren ist Begreifen ist Erkennen lautet der aggressive vampy-rotheutische Lebensentwurf, den Olga Neuwirth in ihrer Komposition zu Klang leben erweckt. Hier schließt sich der Kreis zur eingänglich zitierten Kunsttheorie und ihrer Beschwörung des Dunklen und Unbeherrschbaren. Davon erzählt Olga Neuwirths Komposition: von grandioser Unverlässlichkeit, von steter Überraschung und dem dazu gehörigen aristotelischen Staunen, und von der nimmersatten Gier des Begreifens.
Postskriptum: ,,Wie die meisten Fabeln handelt auch diese scheinbar von Tieren" vermerkt Flusser. Hört man Olga Neuwirths Kompositionen als Erzählung, wird klar, auch diese Fabel handelt sinnbildlich von unseren Relationen zur wahrgenommenen Welt, spiegelt sich in uns und uns in sich: „Einander spiegelnde Spiegel - ist das nicht die Absicht einer jeden Fabel?"