„... wenn ein wissenschaftlicher Ansatz der Ausgangspunkt für Kunst wird ...“
“On the road” ist “on the sea”. Mythologisch gesehen trifft das wahrscheinlich auf niemanden besser zu als auf Odysseus. Im Mittelmeer. Oder vielleicht doch eher Aeneas. Karthago und Italien. Aber wozu in die Mythologie abschweifen. Vor genau hundert Jahren verstarb nach einem durchaus erfolgreichen Leben ein ebenfalls das Mittelmeer Besegelnder. Aber nicht heldenhaft nach Heimat oder neuer Heimat suchend, sondern leidenschaftlich und zugleich mit stupender Logistik und das über Jahrzehnte hin kreuzt Ludwig Salvator mit einer ganzen Mann- und Frauschaft von Wissenschaftlern und Begleitern durch das Mittelmeer. Als Naturforscher und Ethnograf erforscht, besucht, kartografiert, beschreibt er von den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts an bis zu seinem Lebensende im Jahr 1915 Orte des Mittelmeeres. Nicht nur des Mittelmeerraums, aber diese am liebsten und konsequentesten. Und am liebsten Inseln, die zu seiner Zeit kaum jemand kennt. Dort kann Erzherzog Ludwig Salvator seine Beobachtungsmanie und Beschreibungsleidenschaft auf vergleichsweise noch von der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts unberührte Natur- und Sozialsysteme richten.
Dutzende Bücher veröffentlicht Ludwig Salvator, allesamt basierend auf seinen Forschungsergebnissen. Dann aber entdeckt er mehr und mehr auch seine Gabe zum Schriftstellerischen per se, auch ohne im Dienst der Wissenschaft zu stehen. Schlussendlich entstehen knapp vor seinem Tod zwei Bücher, in denen sich seine poetische Gabe mit seiner Leidenschaft für positivistische Wissenschaft vereinen. Zärtlichkeits-Ausdrückeund Koseworte in der friulanischen Sprache lässt Ludwig Salvator 1915 in einer friulanisch-italienisch-deutschen, also dreisprachigen Fassung erscheinen, nachdem der Beginn des 1. Weltkrieges ihn von Mallorca nach Tschechien getrieben hatte. Welch poetischer, zärtlicher und stiller Protest eines deklarierten Pazifisten gegen den Wahnwitz eines beginnenden Weltkrieges. Davor noch geschrieben und 1914 veröffentlicht: Lieder der Bäume. Winterträumereien in meinem Garten in Ramleh. Und für das Projekt „NIXE“ des musikprotokoll 2015, genau zum hundertjährigen Todestag des Erzherzog Ludwig Salvator, ist es das Buch der Anregung für das Projekt. In einem leidenschaftlichen Leben „on the sea“, mit seiner Forschungsdampfyacht Nixe von einem Ort zum nächsten unterwegs, immer die Beobachtungsantennen ausgefahren, legt Ludwig Salvator in einem kleinen Anwesen in Nordägypten nahe Alexandria gewissermaßen eine Rast von der Wissenschaft ein. Aber nur, um weiterhin seine beobachtenden Antennen ausgefahren zu lassen. Und deswegen entsteht kein wissenschaftliches Buch, sondern ein Büchlein der Poesie über den abgelauschten Klang der Bäume, der Klänge verschiedener Baumkronen, der Klänge des Windes und der Vögel.
Die präzise Sinneswahrnehmung wird übertragen in die sinnliche Präzision der Beschreibung. Ein wissenschaftlicher Ansatz wird so zum Ausgangspunkt für Kunst. Dafür steht das Leben und Werk von E. L. Salvator – Ahnherr, Anstifter und Anreger für eine Klangkunst-Ausstellung beim ORF musikprotokoll im steirischen herbst 2015.
Aber von wegen Odysseus: Schon 1905 erscheint – ebenfalls geboren aus dieser Überschneidung von wissenschaftlicher Beobachtung und darstellerischer Genauigkeit – ein reiner Bildband über die „Heimat“ von Odysseus, das Buch Sommertageauf Ithaka. Beinahe hundert Holzschnitttafeln nach Zeichnungen von Ludwig Salvator dokumentieren Buchten und Berge, Höhen und Höhlen. Im Vorwort aber kommt auch das akustische Beobachten nicht zu kurz: „Die Cicaden zirpten und wie man sich der Insel nahte, schien aus jedem Baum, aus jedem Busch, aus jedem Felsen eine Cicadenstimme zu ertönen, gleichsam eine Riesenhymne, die man der Wärme, dem Sommer sang. [...] Nach allen Ecken und Enden durchwanderte ich die Insel zu Wasser und zu Lande, umsegelte ihre Kaps, wo die Brise in den Mittagsstunden heiter polternde Wogen schafft, lauschte dem Gesäuse ihrer Seehöhlen [...]“
Er hätte also das Zeug zu einer Ikone der freien Wissenschaft und ihrer Kunst, jenseits von Academia und zugleich voller leidenschaftlichen Präzision: Der 1847 geborene Erzherzog Ludwig Salvator widmet sich ein Leben lang anstatt der Diplomatie oder dem Militär am Wiener Hof der Naturwissenschaft und Ethnografie. Akribisch dokumentiert er Flora und Fauna, Sitten und Bräuche und veröffentlicht dutzende hochgeschätzte Fachpublikationen, dazwischen auch Reiseliteratur. Jahrzehntelang ist er mit seiner Dampfsegelyacht Nixe unterwegs. Sein Forschungsschwerpunkt sind damals kaum bekannte Inselgruppen des Mittelmeeres, wie die Liparen und die Balearen. 1869 veröffentlicht er die „Tabulae Ludovicianae“, einen umfangreichen Fragenkatalog zur systematischen Erfassung des Erforschten. Er ist Mitglied vieler Fachzirkel wie der „k.k. Geographischen Gesellschaft in Wien“, der „Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften“ oder des „American Museum of Natural History New York“. Auf Mallorca verwirklicht er auf einem gekauften Anwesen im Tramuntana-Gebirge seine Vorstellungen von Lebensführung, Naturschutz und Artenpflege. Er führt ein betont unförmliches Leben und unternimmt viele Vorhaben incognito. Am 12. Oktober 1915 – also genau hundert Jahre vor dem heurigen musikprotokoll – stirbt Erzherzog Ludwig Salvator. Wir wollen diesem Visionär und Quergeist deswegen eine Hommage in Form einiger künstlerischer Interventionen widmen.
NIXE / Der Hafen
Als Kunstfestival einer Rundfunkanstalt, zu deren essentiellen Aufgaben das Übermitteln von Interessantem aus aller Welt zählt, wählen wir die klassische Korrespondentenkabine als Instrument und Präsentationsort zugleich. 14 Korrespondentenkabinen werden von Künstler/innen zehn Tage lang „bespielt“, fungieren als jener Ort, für den die künstlerische Intervention produziert und an dem sie auch rezipiert wird.
NIXE / Das Schiff
Am Ort der aufgestellten Korrespondentenkabinen kann man also immer nur je eine „Tonspur“ oder akustische Intervention in der jeweiligen Kabine wahrnehmen. Alle Audiospuren finden aber ihren Weg auf die Grazer Murinsel, die – als einziger Ort im Grazer Zentrum inmitten von Wasser gelegen und seltsam unentschieden zwischen Insel und Schiff – umgedeutet wird zur „Nixe“, dem Lieblingsort und zugleich notwendigen Instrument für Ludwig Salvators Forschungsreisen.
Und dieses Schiff, die „Nixe“, wird zehn Tage lang bei Wind und Wetter, bei Sonne und Regen klanglich umspült sein von den Klangarbeiten der NIXE-Künstler/innen. Zufällig ausgewählte Fragmente der 14 Klangarbeiten ziehen eines nach dem anderen klanglich am Murinsel-Schiff vorbei, hörbar aus Hornlautsprecherprototypen der Firma Lambda, jedes Sound Art Piece für sich eine schwankend der Strömung folgende Klanglandschaft.
Der Joanneum-Innenhof, der Lesliehof mit seinen vierzehn Korrespondentenkabinen, ist also unser „Hafen“, die Murinsel unser „Schiff“.
Eröffnet werden Schiff und Hafen des musikprotokoll-Projektes „NIXE“ von Bundespräsident Dr. Heinz Fischer am 8. Oktober 2015 um 17.00 Uhr. Auf der Murinsel folgt nach einem kurzen Konzert von Mazen Kerbaj und Franz Hautzinger samt einigen gelesenen Auszügen aus Ludwig Salvators Lieder der Bäume eine veritable Schiffstaufe der temporären „Nixe“ durch Bundespräsident Dr. Heinz Fischer, anschließend öffnen die vierzehn Korrespondentenkabinen im Hof des Joanneums ihre Einstiegsluken
Christian Scheib