In virtute nominum / Decens carmen edere / Clamor meus
Der Komponist und Textdichter Philippe de Vitry war Philosoph, wie Ramon Llull.
Wie bei kaum einem anderen Musikstück dieser Epoche scheint sich Vitrys Motette um sich selbst zu drehen. Die Texte der beiden Oberstimmen bilden Anweisungen, wie man bei der Komposition eines Gedichtes vorgehen sollte, unter starker Anlehnung an Vers zeilen aus der Ars Poetica von Horaz.
Die allererste Zeile des Triplums enthält das Wort Virtus, eines der ‘Principia absoluta’ von Llull. Die Motette besteht auf der einen Ebene aus zwei Teilen von gleicher Dauer (zwei Colores im Tenor): Die Analyse der isorhythmischen Strukturen der beiden Oberstimmen enthüllt jedoch eine weitere strukturelle Ebene. Betrachten wir die Komposition als eine Scheibe, so tauchen bei der Drehung der Scheibe gewisse rhythmische Muster an strukturell wichtigen Stellen wieder auf.
Triplum
Wie viele Ignoranten freuen sich, als Schöpfer von Gedichten
fälschlicherweise gerühmt zu werden,
da sie sich den Lobesworten der Menschen für gleichwertig halten.
Es mischt die getäuschte Unerfahrenheit solcher Menschen,
indem sie verbotene Untugenden der Dichtung nicht vermeidet, das Sanfte mit dem Rauhen,
das Klare mit dem Trüben,
weiß mit schwarz, das Traurige mit dem Freudigen, und übertrieben langen Sachen pflügt sie kurze unter,
von einer unfähigen Muse geführt.
Ist nicht dieser formlose Haufen von Wörtern eine Art Bild,
mit vielen Gestalten gemalt,
als würde der Maler
ein weibliches Haupt anfertigen, dem er Federn beifügt
und einen Pferdehals,
um den Rest zu vervollständigen als einen Seefisch?
Motetus
Wer ein anständiges Gedicht schreiben möchte,
muss ein anständiges Thema wählen und selber schicklich sein;
Die, die sich nur einbilden,
ein Thema auslegen zu können, wären klüger, ließen sie
diese Bürde beiseite.
Ist der tragische Stil
des Schreibens am Anfang, möge in der Mitte der komische
nicht vorkommen, noch am Ende; denn einer ist anspruchslos,
der andere erhaben.
Lass die Vermählung der Wörter
nach der Regel gefeiert werden,
damit sie nicht den kleinsten
minime causetur, Fehler verursache;
und nichts Unpassendes darf
von weitem hergeholt werden,
denn ansonsten wird
das Gedicht nichts wert sein.
Tenor
Mein Rufen / mein Lärmen
HORAZ: Ars poetica, 14
Wenn zum menschlichen Haupte
den Hals des Rosses ein Maler
Fügen wollt’ und die rings
zusammengetragenen Glieder
Bunt mit verschiedener Feder
umziehn, daß garstig geschwärzet
Auslief’ unten zum Fische
das Weib, liebreizend von oben:
Als Zuschauer gestellt, enthieltet
ihr, Freund’, euch des Lachen?