L’animal que donc je suis
Sandeep Bhagwati
L’animal que donc je suis

Exercises in Estrangement (Übungen im Fremdsein) ist eine Serie von Arbeiten, die ich im Jahr 2023 begonnen habe. Den meisten Menschen ist das Gefühl der Entfremdung von der Welt um sie herum vertraut, aber sie meinen damit meist: Entfremdung von den Menschen um sie herum. Viele, mich eingeschlossen, fühlen sich von der Gesellschaft entfremdet, nicht aber von der Natur.

Aber auch die Menschen auf dieser Erde verhalten sich oft so, als wären sie ihr fremd, als wären ihnen die Wesen und Vorgänge in dieser planetarischen Biosphäre nicht so wichtig. Ich interessierte mich für die vielfältigen Erscheinungsformen dieser Entfremdung in unserer klanglichen Existenz. Da meine bevorzugte Art, Kunst zu machen, das Denken mit und durch Klang ist, habe ich eine erweiterbare Serie konzipiert, von der sich vier Werke bereits in verschiedenen Stadien der Realisierung befinden.

Exercises in estrangement I ist der Ausgangspunkt ein Stück über Entfremdungen in der menschlichen Welt. Diese Arbeit ist eine Reflexion über die Rolle der Entfremdung in Lärm und Klang. Wenn die Dinge in der Nähe undurchsichtig und schwierig erscheinen und nur die Dinge in der Ferne kohärent und einfach klingen wie können wir dann miteinander in Verbindung treten? Konzipiert für ein trans-traditionelles Ensemble, werden die Ähnlichkeiten und Unterschiede beim Hören und Gestalten von Klang, die Fehlwahrnehmungen und Affinitäten in musikalischen Traditionen erforscht.

Exercises in estrangement II ist das Stück eines Konzertes, das sich mit unserer konfliktreichen Beziehung und Entfremdung gegenüber Tieren beschäftigt. Mehr dazu weiter unten.

Exercises in estrangement III ist für Quartett konzipiert und versucht, die Merkmale der Kommunikation im rhizomatischen Myzelnetzwerk in klangliche Formen der Kommunikation zwischen improvisierenden Musikern zu übertragen.

Exercises in estrangement IV ist ein bislang utopisches Stück für miteinander verbundene Orchester, das sich über einen ungewöhnlichen Zeitraum rund um den Globus erstreckt. Es wird sich mit nicht-menschlichen Zeitlichkeiten befassen, mit denen von Bäumen, Felsen und Erdschichten. Die Zeitlichkeit ist unsere gefährlichste Entfremdung: Wir können den Zeitfluss unseres Planeten nicht spüren oder mit ihm in Beziehung treten, weil er langsamer ist als unser Leben. Dennoch werden der Planet und sein Klima durch unser ständiges Handeln beeinflusst, das eine Verschlechterung und Zerstörung mit sich bringt: Es reicht weit über unsere Lebenszeit hinaus – ein zeitliches Handeln, für das wir bisher weder eine Intuition noch eine Ethik haben.

Exercises in estrangement II „l‘animal que donc je suis“ (Das Tier, das ich nun mal bin, 2006) ist der Titel eines Bandes mit Texten von Jacques Derrida. In diesem Buch untersucht der Philosoph die engen Verbindungen zwischen Tieren und Menschen. Es ist zu einem zentralen Text für die Idee geworden, dass Mensch und Tier bei aller Unterschiedlichkeit ontologische Gemeinsamkeiten haben – und dass Tiere dennoch ihre eigenen Perspektiven haben, auch auf den Menschen. In seinen Philosophischen Untersuchungen (1953) hatte Ludwig Wittgenstein einmal behauptet: „... wenn ein Löwe sprechen könnte, könnten wir ihn nicht verstehen

...“. Tiere haben ihre eigenen ontologischen Bedingungen, die wir nicht intuitiv „verstehen“ können, wir können nur verstehen, dass diese a) existieren und b) uns nicht zugänglich sind.

Jacob von Uexküll, ein Zeitgenosse Wittgensteins, hätte gesagt: Sie alle leben in ihrer eigenen „Umwelt“ – ein Begriff für das besondere

„Regime der Wahrnehmung, Empfindung und Interpretation“ (Jacques Rancière 2016), das jedes Tier an seine eigene Umgebung bindet.

Wir selbst sind die Tiere, die nicht nur die Körper anderer Tiere verschlingen, sondern auch deren Seinsweisen. Allzu oft glauben wir Menschen zu wissen, was Tiere denken, fühlen, wollen.

Mit der Frage „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ (1979) argumentierte Thomas Nagel, dass wir in der Tat mit genügend Einfühlungsvermögen die „Umwelt“ einer Fledermaus, die Sichtweise der Fledermaus, rekonstruieren könnten. Aber wir würden immer noch nicht wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu sein.

Nicht einmal der Protagonist in Kafkas Geschichte Die Verwandlung, der sich in ein riesiges Insekt verwandelt, kann vollständig ergründen, wie es ist, dieses Insekt zu sein. In ihrem Buch Staying with the Trouble (2016) kommt Donna Haraway daher zu dem Schluss, dass wir die Tatsache anerkennen müssen, dass wir die Seinsweisen von Tieren zwar nicht mit unserem eigenen Denken „kolonisieren“ können, aber dennoch dazu aufgerufen sind, ihre Existenzen anzuerkennen – und mit ihnen eine Gemeinschaft auf diesem Planeten anzustreben, den wir alle miteinander teilen. Die ontologische Kluft, die wir in der Begegnung mit Tieren spüren, sollte nicht zu Angst, Ausbeutung, Gewalt, Vernachlässigung und Verneinung führen. Vielmehr fordert Haraway uns auf, das Tier, das auch wir sind, zu akzeptieren und mit ihm als Verwandten in unseren sich überschneidenden Umwelten zu leben.

Mein Stück ist eine Reflexion über diesen Zustand. Darin ist das Tier präsent, aber nur in unserer eigenen Reflexion, als eine menschliche Konstruktion. Keiner der scheinbar tierischen Klänge in diesem Stück ist einfach eine Aufnahme, immer handelt es sich dabei um eine Rekonstruktion durch menschliche Konzepte, Instrumente und Software. Die Musik dieses Stücks kann uns nicht zeigen, wie es ist, ein Tier zu sein, aber sie kann uns vielleicht darüber nachsinnen lassen, was wir über Tiere – und ihre Musik – glauben ...

Sandeep Bhagwati
Interpret/innen

Komposition: Sandeep Bhagwati
Dirigentin:
Lin Liao
Tontechnik:
Florian Bogner

Klangforum Wien
Oboe, Heckelphon: Markus Deuter
Klarinetten
: Bernhard Zachhuber
Saxofon,
Tubax: Gerald Preinfalk
Fagott,
Kontraforte: Edurne Santos
Horn:
Christoph Walder
Trompete:
Anders Nyqvist
Schlagwerk:
Björn Wilker, Alex Lipowski, Lukas Schiske
Klavier,
Keyboard: Florian Müller

Violine: Annette Bik
Viola: Paul Beckett
Violoncello:
Andreas Lindenbaum
Kontrabass:
Evan Hulbert

Kooperationen

Die Komposition von Sandeep Bhagwati ist ein Auftragswerk des ORF musikprotokoll mit Unterstützung der Société de musique contemporai- ne du Québec (SMCQ).

Termine
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Location
Helmut List Halle
Konzert
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2023 | Klangforum Wien 2023