Polychronia
Polychronia - Zu Mikheil Shugliashvilis Polychronia

Polychronia – wie vertraut und heimisch dieses Wort für jeden Schüler von Micho klingt!

Von Freunden und Kollegen als „Xenakis von Georgien“ apostrophiert, auch von „Verächtern“ der Neuen Musik respektiert, und zwar als Profi, der in alle Facetten und Etappen der abendländischen Musik tiefer als jeder andere eingedrungen war, kannte man Mikheil Shugliashvili sein ganzes Leben lang doch hauptsächlich als hervorragenden Musiklehrer, mit einer ganz eigenen Art, jeden Menschen – sei es ein desinteressierter Teenager oder ein spät der Musik zugewandter Erwachsener – für Musik zu entflammen und zu begeistern. Hoch anerkannt war seine Methode, sich in jeder Musikdisziplin möglichst auf das praktische Musizieren zu orientieren und mit einer bis dahin nie gehörten Effizienz und Enthusiasmus Musik zu vermitteln. Solfeggio, Komposition, Diktat, Gehörbildung, Harmonie, Akkordbildung, Generalbass, Improvisation – alles wurde so geübt und praktisch angewandt, dass sogar Kinder freitonalen Improvisationen singend mit Begeisterung gefolgt sind – zwei- und mehrstimmig!

Lange bevor Computer „musikfähig“ wurden, sehnte er sich nach einer Art computergestütztem Umgang mit allen Parametern in der Musik, sei es Tonmaterial, Dauer, Struktur oder Klangfarbe. Seine Leidenschaft zur Systematisierung und Umfassung der ganzen Vielfalt der Musik war von einem Charisma getragen, das jede Unterrichtsstunde, jedes Gespräch mit ihm zu einem inspirierenden Erlebnis machte.

Seine Kompositionen kamen allerdings fast nie zur Sprache, weder im Unterricht, noch sonst wie. Seit den 80ern hat er auch nicht mehr für die Konzertbühne komponiert und die alten Werke wurden auch nur teilweise, und wenn überhaupt, dann nur einmal aufgeführt. 

1996 starb Mikheil Shugliashvili, auf dem Gipfel seines Glücks, an Herzversagen: Die „Open Society Georgia Foundation“ hatte ihm ein kleines Computermusik-Studio finanziert und sein kreatives Lehren und Vermitteln steigerte sich so, dass sein Körper dieser emotionalen Intensität nicht mehr standhalten konnte.

Während der letzten fünfzehn Jahre dringt seine Musik so langsam in die breitere Öffentlichkeit, und manches davon ertönt gar zum ersten Mal! So kann ich für diesen Text über dieses Orchesterstück nur auf seine handgeschriebene Partitur blickend meine ersten Eindrücke in Worte fassen. Ein Orchesterwerk wie dieses, das 1978 entstandene Polychronia, vor mir zu haben und so ganz direkt die Verknüpfung mit der Erinnerung an Michos Unterrichtsinhalt und Übungskategorien zu erleben – emotionaler geht es nicht mehr!

Es fängt kaum hörbar an, mit einzelnen Schlägen; nach etwa zehn Sekunden geht ein zweiter Puls darüberlos, mit um einen Tick kürzeren Zeitabständen; noch zehn Sekunden später eindritterund so weiter, bis zu zwölf unterschiedlich pulsierenden Schichten, die inzwischen zu einer dichten, laut donnernden Textur geworden sind. In der uns erhaltenen Partitur gibt es keine Besetzungsangabe hinsichtlich der zwölf Stimmen. Die Schreibweise deutet eher auf Schlaginstrumente unbestimmter Tonhöhe hin, welche es aber genau sein sollen, wird wohl immer von der Interpretation abhängen. Hat der Autor das nur übersehen oder wollte er absichtlich keine Besetzung festlegen? Das bleibt unbekannt, genauso wie die Anzahl der Instrumente etwas rätselhaft ist. Sie ist mit 108 auf der Titelseite angegeben, obwohl in der Partitur tatsächlich nur 84 selbstständig geführte Stimmen zu sehen sind und wahrscheinlich alle einzeln zu spielen sind, ja, ein Orchester aus 84 Solisten.

Gerade an dem Punkt, wo die zwölf Stimmen zum ersten Mal zeitlich zusammentreffen sollen, bricht das Crescendo ab und wird von einer leisen, wieder kaum hörbar anfangenden Streicherpassage abgelöst. Sie beginnt sehr hoch: von einem viergestrichenen a ausgehend setzt ein Instrument nach dem anderen jeweils einen Halbton tiefer ein, ein von oben nach unten gebildeter Cluster entsteht, langsam crescendierend und zu einem Fortissimo aufschwemmend, wonach das Ganze in den Tonhöhen wieder heraufzusteigen scheint, sehr langsam, dabei an einen Shepard-Ton erinnernd, aber eher pochend, begleitet von einer langsam werdenden Polychronie der Schlaginstrumente und immer leiser und durchsichtiger werdend bis zum Einsatz der Bläser.

Diese kommen, ebenso wie die Streicher in der Anfangspassage, nacheinander zum Einsatz, kommen ebenfalls chromatisch zu einem absteigenden Cluster – die höheren Bläser – zusammen, jeder seinem eigenen Puls folgend, bei gleichzeitiger Gegenbewegung in den Streichern.

So kommt es zu einer „gleichzeitigen Vielzeitigkeit“, einer „Polychronie“ – wie Mikheil Shugliashvili das eben nannte – der zwei wichtigsten Parameter, der Tonhöhe und des Rhythmus’, begleitet von laufend verändernden Schichtungen von Dynamik und Artikulation, auf einer fühlbaren Achtelpuls-Basis, zum Höhepunkt: einem wirren, kreischenden Sechzehntelwirbelsturm erst in den Streichern, dann in den Bläsern, gefolgt von zwei hochdramatischen Generalpausen, je zehn Sekunden lang, mit den schärfsten und lautesten Tutti-Sforzando dazwischen. 

Eine „Ritardando-Polychronie“ – ein Spiegelbild des Accelerandos vor den Generalpausen – der Schlaginstrumente leitet die Wende beziehungsweise eine Rückkehr zum Ausgangszustand ein, im Krebsgang durch Sechzehntelwirbelstürme, Polychronien, Shepard-Ton-Anklänge und derselben Schlagzeugtextur wie am Anfang, nur – spiegelverkehrt.

Reso Kiknadze
Interpret/innen

ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Dirigent: Ilan Volkov

Kooperationen

Die Partitur zur Komposition Polychronia wurde in einer Kooperation des Verlags Boosey & Hawkes mit dem ORF musikprotokoll erstmals publiziert.

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2019 | ORF Radio-Symphonieorchester Wien