Con forza di gravità
Con forza di gravità

„Ich kann nichts wirklich ernst nehmen, auch gerade den Klang eines Orchesters [nicht], den ich auf der einen Seite liebe und andererseits stets fürchte. Wenn ich den großen Orchesterklang erreiche, muss ich ihn sofort gewissermaßen zerstören.“ So skeptisch äußerte sich der israelische Komponist Yair Klartag gegenüber dem Musikjournalisten Marco Frei. Klartag hat ohne Frage eine Neigung zum Widerständigen, manchmal auch Widersprüchlichen. Zumindest legt der Titel Con forza di gravità keine falsche Spur, sondern gibt unmissverständlich Auskunft über die zugrunde liegende Idee und das kompositorische Verfahren. Das Werk sei, so sagt Klartag, „die klangliche Reflektion über den Unterschied zwischen Schwere, Gewicht oder Last einerseits und Masse andererseits.“ Dem Komponisten schwebte gewissermaßen ein kompositorisches Pendant zum Action Painting vor, wie es vor allem amerikanische Maler in den 1950er-Jahren praktizierten. Auf die Musik übertragen, heißt das für Klartag: „Die Schwerkraft dringt in die abstrakte Welt der Klänge ein und wird zur treibenden Kraft des Stücks, die die ursprünglichen kompositorischen Absichten überschattet.“ Dieses Wirken der Schwerkraft wird in diesem Werk auf beinahe klangmalerische Weise hörbar gemacht durch mikrotonale Abwärtsglissandi. „Mikrotonalität ist ein Mittel, um gleitend, stufenlos von einem Punkt zum nächsten zu gelangen. Ein Intervallsprung, also ein Schritt zwischen zwei Tönen, erscheint mir manchmal wie ein großes Risiko und hat etwas Brutales für mich.“ In diesen Glissandi zerfließen die zuvor sorgsam ausgearbeiteten Motive bis zur Unkenntlichkeit, die „ursprünglichen kompositorischen Absichten“ werden nicht nur überschattet, sondern geradezu vernichtet – wodurch das Widerständige auch in dieser Partitur wirksam ist. „Eine der größten Herausforderungen dieses Genres ist sicherlich die Tradition des Streichorchesters an sich“, so Klartag. Das betrifft zum einen die Homogenität des Klangs, zum anderen aber das Prinzip der Einheitlichkeit, und damit verbunden das Prinzip der Unterordnung. „Es ist schwierig für mich, dass eine Gruppe einem Führer oder auch Stimmführern folgt und genau das Gleiche tut. Deswegen ist das für mich eine Art Kampf mit dieser Tradition. Ich möchte, dass die Hörer bemerken, dass in meinem neuen Stück 21 Menschen vor ihnen spielen und nicht nur ein einheitlicher Klang.“

Textauszug, Erstveröffentlichung: Ultraschall Berlin – Festival für neue Musik

Rainer Pöllmann
Interpret/innen

ORF Radio-Symphonieorchester Wien, Dirigent: Ilan Volkov 

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2019 | ORF Radio-Symphonieorchester Wien