Primen
Primen für drei Chöre und 12 Subdirigenten

Die Komposition ist Caroline und Yaron gewidmet

Wir sprechen und werden gesprochen. Darum geht’s in Primen. Die Verarbeitung eines Wortes beeinflusst die Verarbeitung eines auf dieses folgende Wort. Machen wir uns das bewusst und handeln wir danach. Verarbeiten wir etwas, das von uns selber herrührt, wenn wir es sprechen. Und eben nicht nach etwas, das uns vorgegeben ist. Oder sogar: aufgebürdet, aufgehalst wurde, so zu sein, wie es uns die Sprachform als Norm dann vorgibt. Die sich dann in uns hineinschneidet und wir uns damit körperlich und mental abzugeben haben – an diesen Korsetten oder viel zu weit geschnittenen Röcken, die uns andere überstülpen. Das Hemd unseres eigenen Leibes aber muss uns wieder näher sein als der Rock, der Überzieher, den die Institutionen der Macht in ihrem Interesse zugeschneidert haben.   Ja – Vorsicht: die Manipulationen der Überzieher sind mehr als im Gang!   Wir wollen das aufzeigen, wir wollen das brechen, wir wollen da raus, auch wenn es scheitern sollte. Wir tun uns zusammen, wir sind gemeinsam, wir versuchen, die Wörter wieder von uns aus zu artikulieren, und wir kehren zurück zu den Anfängen des Sprechens: dem Stammeln, dem Stottern, dem Schreien und dem Schweigen. Aber dies miteinander fröhlich, traurig, friedlich und kämpferisch wild, aufgebracht und lässig, – so wie wir leben wollen.   Aber: dafür müssen wir zunächst was anderes wollen – nämlich.   Die im wahren Sinn des Wortes herrschenden Sprechweisen aus Wörtern, Wendungen und kommunikativen Mustern als die uns auferlegten Verhaltensweisen zu brechen. Unser Priming finden.   Das heißt: Wir müssen dagegensprechen, mitreden und danach handeln.   Das wollen wir zeigen: Singend, sprechend, musizierend. Mit selbstgewählten Taktgebern, zwölf an der Zahl, alle ihr eigenes Tempo. Nichts, keine und keiner steht aber für sich allein, wir suchen den Kontakt, die Berührung – von einem Körper zum anderen, von einem Bewusstsein zum anderen:   Den Anfang in Primen bilden Wortreihen, die den Priming-Effekt aufgreifen und vorführen:   Es hängt darin auch von der Stellung des Wortes ab, welche Zuschreibung für jemanden oder für etwas gemerkt wird. Steht die gute Eigenschaft am Anfang und die schlechte am Ende, dann bleibt die gute haften. Verschiebt sich das Ganze bis zur umgekehrten Rangordnung, dann bleibt die nun erstgereihte schlechte Zuschreibung im Bewusstsein der Betrachtenden fixiert. Wörter verlieren absichtlich in Primen auf dem Weg des Artikulierens ihre Buchstaben, Silben – bis sie verschwinden, damit dann neue Wörter entstehen können, die vom Inhalt her die alte Bedeutung verstärken oder abschwächen, oder die eine selbst gewählte und bewusste Bedeutung annehmen – und so den Sprecher und die Sprecherin von der vorgegebenen Aussagebestimmung befreien.   Ja, wir Sprechende werden frei und sprechen, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Aber wir tragen unseren aktiven Teil dazu bei.   Sie und er und wir arbeiten mit dem Mund aus Herz und Verstand und kommunizieren das in lustvoller und aufgeklärter Weise. Und zwar so:   Für das „Priming“ (das eine Wort zum anderen steht im Mittelpunkt) verwendete Wörter: Aufrichtig, Edel, Solidarisch, Hilfreich, Gut, Offen Herzlich, Verlogen   – verwandeln sich in: raufdichtig, lede, dolisarisch, rilfheich, tug, lerzhich, schädel, schilfweich, unseicht, vielleicht, ruht, brut, Tug, Fofen, hoffentlich, querstich, unsterblich, angetroffen, schurkig, kaufwichtig, vereint, modernd, unseicht, stratigesch, unseicht, falsch, unredlich, gemein, unredlich, vereint, scheinheilig, schurkig, ehrbar, verbündet, nachtisch, unseicht, unsterblich, scheinheilig   Im sogenannten „Frosch“-Teil [die eine Silbe zur anderen steht im Mittelpunkt (Frosch)] treten Silben stärker in den Vordergrund und der Prozess der gegenseitigen Beeinflussung wird verdichtet: Es geht nicht mehr um ein Wort nach dem anderen, sondern um Silben, die von einer anderen Stimmlage fortgeführt werden. Exakt würde man das Wort noch verstehen, aber da dies fast nicht möglich ist, zerbricht das Wort immer mehr in die Silben. Also der Mensch selbst zerbricht durch das nicht maschinenhaft Genaue, das oktroyierte Sprachverständnis – und dafür werden folgende Worte kombiniert und zu Silben de-kombiniert:   Liebe, Laben, Leben Leiben, Habe, haben, Leiden, nebel, beben, leib, bebenleben, habenleben, leibenhaben, leibbeben   Im sogenannten „Pulsteil“ wird die Silbe emanzipiert, das Wortverständnis kann der Hörer selbst ausmachen.   Die Hörenden können, so sie wollen, die Silben, die singen gelassen werden, selbst zu einem Wort bringen, aber: Sie müssen das nicht mehr müssen.   Durch die Tempi können andere Wörter entstehen, vorher so noch nicht gedacht, freigemacht   – mit der „Harmonie 1“: Le - La - Lo - Lie - -ben   – mit der „Harmonie 2“: Lei - - Lie - - En - - den - - ben   – mit der „Harmonie 3“: E- -ben -den Weg (e einmal kurz dann lang)   – mit der „Harmonie 4“: A- - tem Al -ter   – mit der „Harmonie 5“: Re - -den Sen – -ken   – mit der „Harmonie 6“: Bo – -den Sä – -en   für den sogenannten „70 Sekunden Teil“: An - fang - en - des - p(b)ot - schaft   Und der letzte gesungene Satz für den sogenannten „liegenden Klangflächenteil“: Eine Mauer wird dort abgerissen, wo die Sprache aufhört   – die Mauer des Diskurses wird abgerissen: Die Auflösung der Wortverständnisse durch den Klang, ein exzessives Silbenerlebnis – führt zum sogenannten „Clusterteil“, zur Silbenklangwolke, zur Auflösung der Sprache, dass Klang und Text und Raum verschmelzen:   Schi- Schuster, Schieben, Schielen, Schießen, Schinden, Schiri, Schimmel, Schiffen,   Schu- Schuster, Schuppe, Schuetzen, Schurke, Schule, Schunke, Schummel,   – und weitere Silben: Ver-, An-, -ken, Mel, den   – letztendlich: Men   Und dann erfolgt:   Der plötzliche totale Bruch durch die Lesung, die ins befreiende Stottern führt – das Ein-Lesen des gesprochenen Wortes in den musizierten Klang – die Stimme des Autors pur bis hin zum Verweben mit den singenden und Sprechenden, den ganzen Chören – auf das Gemeinsame hin bis auf den Schluss, der ein Anfang und kein Ende ist, das konstruktive CHAOS:   Es ist gut, dass ich bin. Dass wir sind. Ich bin sanft flüsternd filigran. Ihr habt einen Leib. Ich labe ihn schüchtern scheu o schreck. Brummend brausen draussen Liebende vorbei. Habe ich einen Grund wie sie? Profund?   Wer ist so gut und schnattert mir was vor. Zischen zucken – plötzlich ein Schrei am Wasser. Eine Welle, eine Woge – da hilft nur Platschen: Patsch – ein Krachen in der Nacht! Ist da etwa eine Schlacht?   Unsere Würde wandelt sich. Unser aller Trieb trabt vertrackt.   Wer spricht aus euch, in mir auch?   (Gehen wir gut auf Kurs: In Dis, in Moll. Toll. Mies)     (Das Libretto ist nur auszugsweise angeführt)
Ferdinand Schmatz
Interpret/innen

Komposition: Peter Jakober (AT)
Text und Sprecher: Ferdinand Schmatz (AT)
Musikalische Leitung: Gerd Kenda (AT)

ensemble zeitfluss (AT) Viola: Daniel Moser 
Cello: Myriam Garcia Fidalgo 
Cello: Aline Privitera 
Kontrabass: Nikolaus Feinig  chor pro musica Graz (AT) mit Dirigent Gerd Kenda (AT)
Vocalforum Graz (AT) mit Dirigent Franz Herzog (AT)
Domkantorei Graz (AT) mit Dirigent Josef Doeller (AT)
Kooperationen
Primen von Peter Jakober ist musikprotokoll-Emil-Breisach-Kompositionsauftrag 2017. Eine Koproduktion von steirischer herbst und musikprotokoll.
Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2017 | Primen