Die Natur oder besser gesagt das Phänomen Wildnis prägt seit vielen Jahren das kompositorische Werk des kubanisch-amerikanisch-österreichischen Komponisten Jorge E. López, der jahrelang in den Hohen Tauern in der Nähe von Heiligenblut wohnte und bis heute in Österreich lebt, nachdem er zuvor Jahre in der Wildnis der amerikanischen Berge verbrachte. Das Überwältigende der Natur einerseits und die menschlichen Triebkräfte andererseits stellte der Komponist immer wieder in seinen Werken in Beziehung zueinander, aus dieser Spannung gewinnen seine Werke ihre erzählerische Kraft, in traumartigen, manchmal albtraumhaften Inszenierungen. Auch das Werk für voraufgenommenes Orchester in achtkanaliger Raumbewegung und mitkonzipiertem Video führt an eine solche Nahtstelle, an die Gebirgsfront des Ersten Weltkriegs in und rund um die Dolomiten. Umweltklänge und Gebirgsbilder, Orchesterklänge und historische Filmaufnahmen sind die zentralen Bestandteile des multimedialen Werks. Der Komponist Jorge E. López im Monolog: „Wenn man hoch oben in den Dolomiten oder in der Ortlergruppe dort verweilt, wo Menschen in 3.500 Meter Höhe nicht nur ein ganzes Jahr hindurch überleben mussten, sondern einander auch noch töten sollten, in hundert Meter Entfernung einander gegenüberliegend, dann sieht man die Spezies Mensch plötzlich ganz anders. Ich hatte mich in den USA sehr mit Wildnis, mit der „reinen Natur“ und deren spiritueller Bedeutung für den Menschen beschäftigt. Hier fand ich in Europa etwas genauso Expressives und Berührendes, aber blutgetränkt und historisch aufgeladen. Selbstverständlich wollte ich kein weiteres Statement über die Sinnlosigkeit des Krieges abliefern, sondern Triebkräften in und zwischen Tiefenpsychologie und Geologie nachspüren.
Ich begann hartnäckig, dann systematisch und zuletzt ziemlich fanatisch, die Kampfstätten des Ersten Weltkrieges im Hochgebirge zu besuchen. Ich habe Menschenknochen in der Hand gehabt auf 2.700 Meter Höhe, ich bin durch Tunnel gekrochen und bin in den Baracken jenseits der Gletscher gewesen. Ich habe versucht, das Werk nicht als systematisches Konstrukt aufzubauen, sondern eher als etwas Erlebtes, Gefühltes. Wenn man alleine so hoch in den Bergen geht, denke ich als Komponist im Klang. Es gibt so eine Raumklangvorstellung, die nah und fern zugleich ist, und das wollte ich für dieses Werk. Es gibt in diesem Werk keine Instrumente, sondern rund um das Publikum acht Lautsprechergruppen, aus denen die vorweg im Funkhaus Wien aufgenommenen Orchesterklänge sowie konkretes Klangmaterial zu hören sind. Das Orchester wurde dabei auf möglichst intime Weise aufgenommen, jedes Instrument einzeln und sehr nahe mikrofoniert. Es wird also ein völlig künstlicher Klangraum rund um das Publikum aufgebaut. Während der Stunde, die dieses Stück dauert, werden der Instrumentalklang und die konkreten Klänge ständig bewegt, manchmal sanft, manchmal brutal. Und – das ist das Entscheidende – immer mit Bezug auf das Bild. Die Leinwand, auf der man das Video sieht, mit historischem Filmmaterial aus dem Weltkrieg, Landschaftsbildern aus den Dolomiten, verschiedenen Verfremdungen und Überlagerungen, also diese Leinwand muss man sich vorstellen wie einen Magnet. Ein Magnet, der nicht nur anzieht, sondern ebenso auch abstoßend wirken kann. Die Aktion auf der Leinwand treibt manchmal den Klang davon, manchmal saugt sie ihn ein, manchmal wirbelt sie den Klang herum. Und das Publikum befindet sich immer im Zentrum dieser Kräfte.
Konzipiert ist das Ganze wie eine Fuge in vier Stimmen, als wäre es eine Konzeption von Johann Sebastian Bach. Die vier Stimmen lauten: Stimme Eins: historisches Bild, also Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. Stimme Zwei: Naturbilder, also die Orte, wo gekämpft wurde. Stimme Drei A: Instrumentalklang und Stimme Drei B: Konkretklang. Sowie Stimme Vier: Die Bewegung des Klangs gegenüber Stimme Eins und Zwei. Das sind wie vier Stimmen einer Fuge, und wie bei jedem guten Kontrapunkt bewegen sich die Stimmen nicht parallel, sondern wirken aufeinander, manchmal schweigt die Bewegung, manchmal schweigt das historische Bild. Es war von Beginn der Konzeption an meine Absicht, dass man das Sehen wie auch das Hören beanspruchen sollte, aber nicht immer gleichzeitig. Es musste Klang ohne Bild geben, schwarze Leinwand mit Musik, aber auch Stummfilm, also Film ohne Klang.
Das Werk hat eine eher auf Träumen beruhende Erzählstruktur, wie eigentlich alle meine Werke. Es gibt eine Art Einleitung, in der man fast ständig die Felsen des Travenanzes-Tales sieht. Das ist eine sehr merkwürdige Felsstruktur, mit Löchern und horizontalen Felsstrukturen, und sie ist so gefilmt, als würde die Kamera in diesem Buch der Natur lesen können. Anschließend kristallisiert sich eine Art Erzählung heraus, eine ‚abstrakte Kreiserzählung‘ über die Gebirgsfront. Es wird aufgestiegen, es wird transportiert, man sieht mindestens zwanzig Minuten lang Fragmente aus alten Filmen mit Soldaten, die Kanonen oder anderes Zeug endlos mühsam nach oben schleppen, auf den Gletschern, über die Felsen, die marschieren endlos nach oben. Es gibt mehrere Unterbrechungen dieser Erzählung, also Orchesterzwischenspiele, in denen die Instrumentalmusik sich fast in Richtung einer symphonischen Exposition zu bewegen scheint. Nachdem man das Zeug nach oben geschleppt hat, wird die Musik dann weniger und weniger zielgerichtet. Der Klang wird bescheidener, zieht sich zurück. Er flüstert sozusagen: Schau mal, was da passiert. Im Vergleich zu den manchmal wütenden Klängen der ersten halben Stunde wirken die Klänge zurückhaltender, fast wie im Halbschlaf. Die Musik bleibt zurückhaltend bis zu einem Punkt kurz vor Ende, wo es eine Art falsche Rekapitulation gibt, also thematische Fetzen aus den ersten zehn Minuten des Werks werden nochmals gehört, albtraumhaft, lösen sich auf. Das Werk schließt eher unentschlossen und nachdenklich, aber dennoch unruhig.“