Von innen nach außen: In Irrlicht wird das klangliche Material der einzelnen Instrumente aus der Beschäftigung mit instrumentaler Artikulation gewonnen, also der vielfach unterschiedlichen Gestaltung von Tonanfängen (Attacken, „unnatürlichen“ Einschwingvorgängen, Konsonanten) und Tonenden (Schnitten, plötzlichem oder langsamen Verschwinden von Klängen) sowie gezielter Phrasierung, die dem Klang und der Melodiebildung menschlicher Rede nachempfunden ist. Dazwischen eingelagert finden sich atypische, dem Instrument oftmals fremde, komplexe Klanggestaltungen, die mittels einfacher Präparationen am Instrument und/oder gezielter Spieltechniken entwickelt werden. Einen wesentlichen Bestandteil des
Klangkörpers bilden vielfach variierte Abstufungen von Rauschklängen, einem klanglichen Bereich also, der die instrumentalen Charakteristika aufzulösen versucht. Zudem führt eine gezielte Mikrofonierung zu signifikanten Ausfransungen und Detailvergrößerungen der Klänge und zu unnatürlichen Nah- und Distanzverhältnissen der einzelnen Instrumente im Ensembleklang.
Im Verlauf des Stückes übernehmen einzelne Instrumente vermehrt „gesprochene“ Passagen. Es ist ein Sprechen in Phonemen, wobei Silben – als Kombination von Vokalen und Konsonanten – anstelle von Noten und deren Artikulationsdetails treten. Dieses „gestaltlos rhetorische“ Material organisiert sich also zuweilen in Redeblöcken, in Schimpfen, Stammeln oder Stottern. Die formale Gestaltung des Stückes führt am Ende dahin, dass sich alle Musiker ihrer Instrumente entledigen und zu unterschiedlichen Trichtern, Röhren und Schläuchen greifen – und doch basiert das Sprechen der Silben und/oder der Phoneme auf rein musikalischen Sinnzusammenhängen. Um den Bedeutungsgehalt der Silben zu löschen, kommt oftmals eine Dynamisierung zum Tragen, die dieser Bedeutung entgegen gesetzt ist: Silben und Bedeutung stehen somit in einem kontrapunktischen Verhältnis zueinander.
Irrlicht mit seinen vorwiegend hellen Klangfarben, aus denen die Komposition gestaltet ist, ist also nicht nur ein vielfaches In-die-Irreführen des Hörers, sondern auch ein Spiel mit seinen Assoziationen und Sinnverknüpfungen – wie Lichtblitze, die einem kurzen Aufflackern von klanglichen Momenten entsprechen.
Und dann verweist der Stücktitel natürlich auf die Metaphernwelt, in der Irrlichter als kurzzeitige Leuchterscheinungen bekannt sind, wie sie bisweilen nächtens vorwiegend in Sümpfen
oder Mooren zu beobachten sind. Eine handfeste wissenschaftliche Erklärung dieses seltenen Phänomens gibt es bis heute nicht – vielmehr hat sich ein durch die Mythologie tradierter Begriffsschatz verfestigt, der viel mit Aberglauben zu tun hat: Dabei verleiten Irrwische, Naturgeister also, durch plötzliche Illuminationen den erschöpften Wanderer, dem Licht zu folgen und damit in die Irre zu gehen. Aber das
ist hier eher ein metaphorischer Strohhalm, der dem Ideal des weißen Papiers, das keinen Titel trägt, keine Vorprägung mit sich führt und keine inhaltliche Lenkung anstrebt, ein wenig die Luft aus den Segeln nimmt. Irrlicht ist für die Minuten des Stücks kein Phänomen, sondern ein Zustand.