der blauäugige fremde
der blauäugige fremde

wie bitte?!
Ein Gitarrist hat mir erzählt, dass er als Kind ein zweites Loch in die Resonanzdecke seiner Gitarre gesägt hat, um lauter spielen zu können, also um einer größeren Menge von Klang die Möglichkeit zu geben aus dem Dunkel des Korpus hinauszukommen. Mein Weg die Distanz zum lang zu verkürzen ist umgekehrt, nämlich – wie eine Maus die sich ein Loch in ein Instrument gefressen hat - in den Korpus hinein. (Wobei Distanz natürlich etwas mit Dynamik zu tun hat, das Verhältnis aber ein sehr komplexes ist. Ein verstärkter, aber leise gespielter Klang ist etwas grund­sätzlich anderes als ein laut gespielter Klang mit der gleichen gemessenen Dezibel­anzahl.) In der Musik der Renaissance haben sich zwei wichtige musikalische Formen entwickelt: die Toccata und das Ricercar. Die Namen dieser Formen, das Berühren (toccare) und das Erforschen (ricercare) spiegeln eine Grundhaltung zur Musik, der ich mich sehr nahe fühle. Musik wird gedacht nicht als Erfindung oder Ausdruck, sondern eben als Finden und Erforschen von Klang. Klänge werden nicht erfunden und dann dazu benutzt, um etwas auszusagen, sondern sie werden durch Abtasten gefunden und mit Hilfe der Kompositionstechnik erforscht. Alle diese für den Hörer nur schwer durchschaubaren, komplexen kontrapunktischen Konstruktionen und strengen Strukturen dienen dem Ziel den Klängen an und für sich Raum zu geben, sich zu entwickeln, in all ihrer Schönheit und Vielfalt. Dabei versucht der Komponist nicht als Wissenschaftler die Struktur der Klänge nach den Verfahren seiner wissenschaftlichen Weltanschauung zu analysieren, sondern er ist bestrebt die nur intuitiv erfahrbare Fülle und Tiefe der Klänge freizulegen. Zuhören ist für mich kein Vorgang des Dechiffrierens von Botschaften vom Komponisten, Klang wird nicht benutzt, um etwas darzustellen oder auszudrücken, sondern im Gegenteil: Klare Form und strenge Struktur dienen dazu, den Klang fassbar zu machen, ihm – in einem schönen Paradoxon – die Freiheit zu geben sich zu entwickeln und dem Hörer die Gelegenheit das zu hören, was zu hören ist. Auch mein Fokus als Komponist liegt auf dem Klang an und für sich. Nachdem ich es als meine Aufgabe ansehe dem Klang die Möglichkeit zu geben seine in ihm liegende Kraft und Schön­heit zu entfalten und diese zugänglich und hörend erlebbar zu machen, stellt sich mir die Frage, in welchem Zustand seine Reichtümer am leichtesten zugänglich gemacht werden können. Die im ersten Augenblick paradox erscheinende Antwort ist die, dass der reichste Klang der leiseste Klang ist. Das „Pianissimo" ist das akustische Äquivalent zum visuellen Horizont. Es ist die Grenze zum nicht mehr Wahrnehmbaren, also die größtmögliche Weite und das Kleinste in einem. Spielt jemand so leise wie möglich entsteht der Eindruck der Klang sei zugleich ganz nahe und ganz weit weg. Man könnte sagen, ein leiser Klang ist wie ein „Möglichkeitsklang" im Gegensatz zum „Wirklichkeitsklang" des Lauten, das sich eindeutig, quasi vollständig ausspricht und dadurch seine potentielle Vieldeutigkeit verliert. Im Leisen dagegen sind die beide Extreme, das Verstummen und das Laute, quasi als Möglichkeiten enthalten. Wir finden wieder das schöne Paradoxon, dass das Leise also viel reicher als das Laute, das vermeintlich Schwache viel stärker als das Starke ist. Das Affirmative, das Festgelegte, das bereits Entschiedene hat seine Energie eben in dieser Erstarrung eigentlich verloren. Das Zarte und das Kleine erfordern allerdings auch erhöhte Aufmerksamkeit und Zuneigung im wörtlichen Sinne. Man wendet sich dem Klang zu, über­windet die Distanz zum Klang die in Momenten größter, nüchternen Intensität gänzlich zu verschwinden scheint.

Klaus Lang
Audiodoku
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der blauäugige fremde by Klaus Lang © ORF musikprotokoll
Interpret/innen

Klaus Lang (* 1971, A), Komposition
Anders Forisdal (* 1977, N), Gitarre

Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2010 | Klaus Lang