For Piano and...
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Die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfen Überlegungen zu James Tenney
Tenneys Œuvre umfasst eine ungeheure Vielfalt von Kompositionsverfahren. Sie reichen von einzelnen Konzeptstücken für ein Instrument bis zu stochastischen Formen für Computermusik oder akustische Instrumente, von rein graphi¬schen zu vollständig ausnotierten Partiturenn Stücken, die auf einer einzigen Obertonreihe (mit oder ohne elektronische Weiterverarbei¬tung) beruhen, zu solchen, die von jeglichem harmonischen Denken völlig unabhängig sind, von aleatorischen Systemen (wie stochastischen oder ergodischen Strukturen, graphi¬schen Partituren oder seiner Verwendung des I Ging) zu empirisch komponierten Stücken, darunter auch Hommagen an andere Kompo¬nisten wie Conlon Nancarrow oder Scott Joplin. Anstatt verschiedene Module von Tonhöhe und Rhythmus als Grundlage für Komponisten im traditionellen Sinn (oder auch als „Aggregate") zu verwenden, neigte Tenney eher – dem Vorbild Cages folgend – dem aleatorischen Ansatz zu: Die Einzelklänge als autonom, bis auf die Tatsache, dass alle darin vorkommenden Ereignisse letztlich durch eine übergeordnete Form koordiniert werden, für die der Komponist einige Regeln oder Gesetze vorgegeben hat.

Eindrucksvoll an Tenneys Kompositionen und Schriften ist vor allem ihre begriffliche Klarheit: Er war in seiner Arbeit immer daran interessiert, eine Formvorstellung oder ein klar abgestecktes Experiment zu veranschaulichen. Tenney war gleichermaßen Mathematiker wie Komponist, der die Aufgabe des Komponierens wie ein Wissenschaftler anging – mit einer Idee, einer Theorie, einigen Fragen und einer Reihe von Variablen, mit denen er experimentieren und schließlich eine „Lösung" herbeiführen wollte, wenn auch nur eine Lösung aus einer unend¬lichen Menge von Möglichkeiten. Tenney war ein brillanter Denker, der in der Lage war, seine Gedanken in sehr klarer und einfacher Weise auszudrücken, ganz wie die „kürzeste Entfer¬nung zwischen zwei Punkten" in der Mathematik und Wissenschaft. So achtete er immer darauf, dass seine Absicht von Anfang an klar zutage lag, bevor er an eine Komposition heranging.

Tenney nahm Cages neuartige, abstrakte Auf¬fassung des musikalischen Materials und der Art seiner Strukturierung auf und integrierte sie in sein Denken, indem er diese Ideen und ihre Sprache auf seine Weise prüfte in Frage stellte und erweiterte (wie Cage es mit den Vorstellun¬gen Schönbergs und des Zen-Buddhismus getan hatte). Als politischer Komponist und Philosoph hatte Cage mit dem logischen Extrem musikalischer (konzeptioneller) Entwicklungen eine revolutionäre Neudefinition der Musik formuliert, die schon von früheren Generationen angestrebt worden war und auf die kommende Generationen – die heutige eingeschlossen –weiter aufbauen. Andererseits war Tenney praktischer Mathematiker und Komponist, der sich vor allem mit der Wahrnehmung und Verwirklichung der inhärenten, strukturellen Klangaspekte auseinandergesetzt hat. Während Cage der Ansicht war, die Zukunft der Musik liege in der Horizontale (Dauer), erhob Tenney als Antwort darauf den Anspruch, die Vertikale (Harmonie) habe noch eine Zukunft, ihr Poten¬tial sei noch nicht erschöpft.

Als Mensch war Tenney praktisch, optimistisch, enthusiastisch, unsentimental (aber nicht ohne Gefühl). In seinen Kompositionen und theoretischen Schriften vermied er unnötigen Zierrat oder Ablenkung und klammerte seine persönliche Anteilnahme aus. Zu sehr war er auf die
inhärenten mathematischen Beziehungen zwischen den Klängen und ihrer Entsprechung in der Musik fixiert. Immer hatte er sein Vergnügen an Prozessen oder musikalischen Vorstellungen, die sich, sei es spielerisch oder streng, mit dem abstrakten numerischen Klangaspekt beschäftigten. Tenneys Persönlichkeit gibt sich in seiner Auswahl des Materials zu erkennen: wie er es ansah, wie er es behandelte - die Art der Prozesse, die er benutzte. Wie in der Musik von Bach, Schönberg, Nancarrow und anderer Komponisten, die sich von Zahlen inspirieren ließen, scheint das Fortschreiten der Klänge in Tenneys Musik oft von einem unabhängig logischen Impetus angetrieben zu sein. Unser Vergnügen, seiner Musik zuzuhören, besteht zum einen in der Freude, an einem logischen Prozess teilzuhaben, einer Idee oder einem formalen Prozess, der sich in der Zeit entfaltet, und zum anderen im Vergnügen, dem Klang einfach zuzuhören. Wir können uns an der Erfahrung einer musikalischen, mathematischen oder abstrakten Wahrheit schlicht erfreuen, ohne dass das „Ich" einer Person sich aufdrängt oder die Reinheit schmuckloser Klänge überschattet.

Während Tenneys künstlerische Haltung auch eine der strengen Konzentration auf die reine Idee und den reinen Klang war, strahlte er dagegen als Mensch eine große Wärme aus, nahm rege soziale Kontakte auf und feierte das Leben wie auch die Sexualität. Außerdem pflegte er lebhaften Austausch mit anderen Kunstformen. In den sechziger Jahren nahm er an den Aktionskunst-Performances seiner damaligen Lebensgefährtin Carolee Schneemann teil, und seit dem fünfziger Jahren arbeitete er immer wieder mit dem experimentellen Filmemacher Stan Brakhage zusammen. Seien Komposition Blue Suede (eine elektronische Dekonstruktion und Rekonstruktion von Elvis Presleys berühmter Fassung des Liedes Blue Suede Shoes) und seine Hommage an Scott Joplin, den amerikanischen Ragtime-Pianisten und -Komponisten, sowie an Conlon Nancarrow, zeigen die Seite von Tenneys Persönlichkeit, die die tanzbaren Aspekte des Lebens zelebrierte. Seine Freude am Menschsein, sein unablässig und ansteckend positiver Geist, sowie seine Fähigkeit, sowohl einfache als auch komplexe Ideen auszudrücken, haben ihn in den vergangenen Jahrzehnten zu einer äußerst sprühenden, mitteilsamen und anregenden Figur für überaus viele Musiker und Komponisten gemacht.

Chiyoko Szlavnics in Die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfen. Überlegungen zu James Tenney. MusikTexte 112. (2007) [gekürzt und bearbeitet durch musikprotokoll Redaktion]
Audiodoku
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For Piano and... by James Tenney © ORF musikprotokoll
Interpret/innen

James Tenney (* 1934-2006, USA), Komposition
RSO Wien (A)
Gottfried Rabl (A), Dirigent

Kooperationen

 Dank an Gisela Gronemeyer/MusikTexte, Zeitschrift für Neue Musik für die Vermittlung des Textes.

Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2010 | RSO Wien Tenney / Haas