Staging the Conflict. Staging Peace. Ignoring One's Own History.
Europäische Kuratoren und Kulturinstitute haben den Bürgerkrieg als Thema entdeckt. Das erklärt sich nicht nur durch die gestiegene Aufmerksamkeit für die Alltagsrealität und Arbeitspraxis von Künstlern aus Krisengebieten - es gibt den Institutionen auch die Gelegenheit, sich als neutrale und vermittelnde Instanzen in Szene zu setzen. Dabei wird die tiefe Verwobenheit Europas in Konflikte jenseits unserer Grenzen ignoriert, so Serhat Karakayali und Sebastian Meissner.
Beim Eurovision Song Contest genau wie bei der Fußball-Europameisterschaft spult sich vor den meisten Fernsehern in Europa seit Jahren ein fast vorprogrammierter Dialog ab. Er handelt von der Frage, wer zu Europa gehört und wer nicht, sowie von der Evidenz dieser Zugehörigkeit und den entsprechenden Nicht-Zugehörigkeiten. Warum spielt die Türkei bei der EM mit und andere Mittelmeerstaaten weiter südlich nicht? Warum treten israelische Interpreten beim Song Contest auf? All jene, die sich den komplizierten Fragen kultureller und politischer Identität nicht stellen wollen, versuchen dabei - genau wie im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt der Türkei -, die Zugehörigkeit zu Europa geografisch zu definieren.
Anstatt, wie in jüngster Zeit immer häufiger der Fall, auf die Frage nach der europäischen Identität eine eindeutige Antwort zu suchen, möchten wir in diesem Text einen anderen Weg gehen. Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist die im Kunstkontext immer wieder zu beobachtende Tendenz, Künstler aus dem „Nahen Osten" mit dem Auftrag nach Europa einzuladen, hier eine Kultur des Dialogs und des Friedens zu zelebrieren - und zwar unabhängig davon, ob sie zu Multikulti-Veranstaltungen und Diskussionen geladen sind oder mit expliziten Werken über den Bürgerkrieg präsentiert werden. Mit diesem Staging the conflict werden nicht nur die Künstler auf ihre nationalen Zugehörigkeiten und ihren vermeintlichen Gegensatz reduziert, mehr noch: Die europäischen Kulturinstitutionen machen es den europäischen Global Players in Politik und Wirtschaft nach, indem sie sich als neutrale und moderierende Instanz gegenüber der Barbarei „da unten" inszenieren. Staging peace sozusagen. Vor diesem Hintergrund wollen wir die Aufmerksamkeit für einen Augenblick in eine andere Richtung lenken: auf die Geschichte der Verschränkungen und Verflechtungen zwischen den Kulturen, der nicht auflösbaren Verwandtschaft und der unmittelbaren Kausalbeziehungen zwischen dem Nahost-Konflikt und Europa.
Es ist schon beinahe eine Binsenweisheit der historischen Europaforschung, dass dieses Gebilde erst mithilfe vielfältiger Einflüsse durch Judentum und Islam zu dem geworden ist, was das „christliche Abendland" genannt wird. In diesem Zusammenhang ist zunächst die Wirkungsmacht kultureller Zirkulation zu nennen: zum Beispiel die „Rettung" der aristotelischen Texte durch arabische Philosophen wie Ibn Sina oder Ibn Rusd im 9. Jahrhundert oder die friedliche Koexistenz zwischen Christen, Muslimen und Juden in Andalusien zur selben Zeit. Auch wenn man nicht vergessen sollte, dass derartige Koexistenzen oftmals auf prekären ökonomischen und machtpolitischen Arrangements beruhten, ist es wichtig zu zeigen, dass Juden, Muslime und Christen in der Vergangenheit über weite Strecken friedlich zusammenleben konnten, denn mit dem starken Fokus auf das Konflikthafte wird oftmals der Gegensatz der Kulturen gleichsam als natürlicher Ausgangspunkt von Konflikten konstruiert. Wir müssen verstehen, wie Identitäten, die (Selbst-)Zuschreibung zu Gruppen mittels kultureller Eigenschaften und ihre manchmal religiösen Formen als Strategeme in Machtkonstellationen funktionieren; zu beobachten vor allem dann, wenn die ethnisch kodierten ökonomischen Arbeitsteilungen, auf die man sich in guten Zeiten gern stillschweigend einigt, in schlechten Zeiten zu ernsthaften gesellschaftlichen Krisen und Vertreibungen führen (wie dies auch heute noch in Europa geschieht). Andernfalls erscheinen Pogrome, Vertreibungen und Diskriminierungen entweder wie unerklärliche kontingente Ereignisse oder wie die zwangsläufige Folge eines schlecht praktizierten diversity managements.
Man muss also verstehen, wie Identität mit Macht zusammenhängt. Anstatt – wie etwa Samuel Huntington mit seiner Theorie vom „Clash der Kulturen“ – zu behaupten, Kulturen seien in sich geschlossen und dadurch Quelle immerwährender Konflikte, muss man es genau andersherum betrachten. Kultur ist nichts Unveränderliches, sondern die beständige Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Widersprüchen, die sie verarbeitet und denen sie eine Form gibt. Auch im Nahost-Konflikt geht es um dominierende und dominierte Identitäten und die Deutungsmacht darüber, wer sich mit welcher Identität in welcher Situation behaupten kann. Das zeigen auch die widersprüchlichen Bezugnahmen auf den Holocaust durch verschiedene Akteure der „arabischen“ Seite: Sie changieren zwischen der Leugnung des Holocaust, der Kritik an der Indienstnahme des Leidens für die israelische Staatspolitik und der Gleichsetzung von Holocaust und Besatzungspolitik unter dem Motto „Wir sind die Juden der Juden“. Dass es plausibel wirkt, dass Israel vielen arabischen Akteuren als europäische Kolonie erscheint, verdeckt jedoch, dass es Herrschaft und Unterdrückung auch jenseits von Kolonialbeziehungen gibt. Es gibt kein homogenes Volk, auch kein homogenes arabisches: Es gibt Arbeiter und solche, die von der Arbeit anderer leben, Geschlechterverhältnisse und vieles mehr. Das Kolonialismusparadigma konnte für lange Zeit diese Widersprüche verdecken und tut es, nicht nur in der arabischen Welt, bis heute.
Während man sich über diese Dinge in einem kritischen Wissenschaftsdiskurs einigermaßen einig ist, dominiert im Bereich der Kunst und Kultur ein kaum nachvollziehbarer Kulturalismus, wie Navid Kermani bereits vor fünf Jahren konstatierte: „Der europäische Kulturaustausch mit dem Nahen Osten reproduziert in der Regel die politischen Verwerfungen in der Region, statt zu ihrer Überwindung beizutragen.“ Ein wichtiger Schritt wäre es also, Kulturen in Europa und anderswo als prinzipiell inhomogen zu verstehen. Konflikte nicht zwischen, sondern innerhalb der so genannten „Kulturkreise“ zu lokalisieren. Die Behauptung, eine Kultur, Ethnie oder Religion sei wesenhaft unterschieden von einer anderen, ist im Grunde bereits eine Kriegserklärung. Sie mobilisiert und bündelt die konfliktorischen Energien im Inneren einer Gesellschaft und leitet sie um in imperiale Projekte. Die treibenden Kräfte hinter solchen kulturalistischen oder ethnisierenden Erklärungen sind denn auch oft diejenigen, die die hierdurch entfesselte Gewalt in Schweizer Bankkonten zu verwandeln verstehen. Im Europa der jüngeren Vergangenheit war Jugoslawien hierfür das Paradebeispiel. Auf paradigmatische Weise haben dort die oben skizzierten Linien von Kulturalisierung, Rassismus und Kolonialismus zu einer Eskalation der Gewalt geführt. Paradigmatisch vor allem im Falle von Bosnien, der ehemaligen „Kolonie“ von K.u.K.-Österreich. Ähnlich wie Polen für das Deutsche Reich repräsentierte das als zurückgeblieben und vormodern apostrophierte Bosnien das Objekt zivilisatorischer Missionen und der Selbstinszenierung der „westlichen“ Kolonialisten als Herrenmenschen. Die buchstäbliche Konstruktionder „Bosniaken“ (wie auch der Kroaten oder Serben) im Zuge der jugoslawischen Teilungskriege erfolgte anhand der einzigen Kategorie, die überhaupt eine Unterscheidung zwischen den Bevölkerungsgruppen ermöglichte, nämlich der Religion. In Banja Luka haben serbische Nationalisten sich als die Verteidiger eines christlichen Europas inszeniert, als sie die Ferhadija-Moschee zerstörten – die Synagoge hatten die kroatischen Faschisten unter Mithilfe der Nazis bereits während des Zweiten Weltkriegs dem Erdboden gleichgemacht. Das heißt nicht, dass Banja Luka, Sarajewo oder Srebrenica der Nahe Osten Europas sind.
Europa, das ist in nicht geringem Umfang eine Geschichte des Krieges, der Gewalt und der Vernichtung. Wer heute Nachrichten aus dem sogenannten Nahen Osten liest, könnte leicht den Eindruck bekommen, die Barbaren seien immer die anderen, denen Europa Frieden und Demokratie bringen muss. Erinnern wir deshalb daran, dass es nur eine einzige Regierung unter einer Vichy/Nazi-Besatzung gab, die die Deportation von Juden verhinderte, und dass dies die (muslimische) Regierung von König Mohammed V. von Marokko war – oder an die ausdrückliche Weigerung des religiösen und politischen Establishments in Algerien, sich zum Handlager der französischen Enteignungspolitik gegenüber den algerischen Juden zu machen.