Die oft beschworene Entdeckungsreise, die mit dem Anhören zeitgenössischer Musik verbunden ist, wollte Gerd Kühr für sein neues Ensemblestück stop andgo and black and white (and sometimes blue) einmal selbst unternehmen. Hatte er sich während der Oper Tod und Teufel in den letzten Jahren von einem Konzept leiten lassen müssen, das zudem aus einem Libretto abgeleitet worden war, so sehnte er sich nun nach dem Gegenteil: voraussetzungslos am Morgen mit dem Komponieren anzufangen, unabhängig von der Entwicklung des Vorabends, vergleichbar dem Reisenden, der am Bahnhof immer just jene Fahrkarte kauft, die sein Vorgänger in der Schlange am Schalter erworben hat. Anlässlich des Salzburger Komponistenportraits schrieb Kühr: „Ich gehe einen Weg, treffe oft auf Unerwartetes nach einer Wegbiegung, auf (vielleicht) Neues, und doch bewege ich mich stets im Jetzt, werde, kann und will die Zukunft nicht erreichen im Sinne einer Finalität".
stop and go and black and white (and sometimes blue) hat in mehrfacher Hinsicht etwas Spielerisches. In leichter und möglichst absichtsloser Manier wirft der Komponist Linien, Punkte und Flächen aufs Papier, mal mit breitem Pinselstrich, mal mit spitzem Bleistift. In Windeseile trippeln die Holzbläser zu Beginn durch einen weiten chromatischen Raum, dabei mit Triller und Flatterzunge zentrale Klangfiguren der Komposition vorwegnehmend. Nach einer Generalpause schießen die verschiedenen Linien in den Holzbläsern zusammen - die Aufteilung in gleich behandelte Instrumentengruppen verweist diese Komposition eindeutig ins Genre der Kammersymphonie. Dem folgt die erste von vielen „gepunkteten" Flächen: Wieder sind es die Holzbläser, die ein komplexes chromatisches Netz spinnen, aus dem gleich darauf die Blechbläser den Rhythmus extrahieren.
So geht es weiter. Immer wieder „stop and go", Aufeinanderprallen von Gegensätzen, „black and white", flüchtig, hingeworfen, aber auch entschieden, etwa wenn klangliche Extreme aufeinanderprallen sollen: Da gibt es Passagen, in denen tiefste auf höchste Register folgen, und solche, wo beide gleichzeitig erklingen. Der Chromatik zu Beginn steht eine längere Zentralton-Passage um cis mit Streichern und Stab-Instrumenten im dritten Viertel des Werkes gegenüber. Im letzten Viertel schließlich verdichten sich die rhythmisch minuziös gestalteten Episoden der ersten Teile zu ausufernden Klangflächen.
Und mittendrin das Saxophon, das den Komponisten eines schönen Arbeitstages in rockige Gefilde entführte, die zu betreten er anfangs nicht vor hatte und die ein bisschen gegen die Political Correctness verstoßen. Kühr ließ sich treiben und widmete dem Instrument eineausgewachsene Kadenz, in der er dann auch ausgiebig Gebrauch von der Farbe Blau macht -„(and sometimes blue)" lautet der Titelzusatz der Komposition, die bei aller Schwarzweißmalerei nicht auf die Zwischentöne verzichten mag.
Man kann stop and go and black and white (and sometimes blue) als Collage wahrnehmen. Tatsächlich ist der Schnitt das Formprinzip des Stückes, nicht die Entwicklung. Doch die unterirdischen Zusammenhänge sind fest gefügt. Auch wer die Wiederkehr melodischer Einheiten, ja ganzer Taktgruppen bei unveränderter Tonhöhe, aber in neuem Klanggewand nicht bemerkt, könnte spüren, dass die Vielfalt auf sicherem und überschaubarem Fundament gebaut ist. Die Überraschung, dass hier wirklich hinter jeder Ecke etwas Neues lauert, wird dies nicht schwächen.