„Es ist mein Ziel, jedes Werk als lebendiges, organisches Ganzes entstehen zu lassen, und das ist natürlich unvereinbar mit den work-in-progress-Ideen einiger meiner Kollegen. Was die spätere Umarbeitung eines Werks nicht ausschließt: So habe ich zum Beispiel in Timbres, Espace, Mouvement ein Interlude für zwölf Celli eingefügt. Dadurch wurde nach vielen Jahren aus einem Diptychon eine ternäre Form. Und ich glaube, daß in diesem Fall das Werk an Dichte und Kontur gewonnen hat. Verbesserungen sind immer möglich." Henri Dutilleux
Dutilleux sieht sich als „Farbenkomponist", wobei er in der Entdeckung harmonischer Farben vieles Chopin und Schumann verdankt und in der Erfahrung instrumentaler Wirkungen Berlioz. Sein großes Vorbild aber ist Claude Debussy. Dessen Wendigkeit und auf natürliche Art den Konventionen entkommende Kunst des endlos fluktuierenden Augenblicks ist ihm künstlerisches Ideal - als allgemeines Schaffensprinzip, denn eine Nachahmung spezifischer Züge des Vorbilds strebt er nicht an, vielmehr meidet er bewußt jede stilistische Analogie.
Sein erstes vollgültiges Werk ist die 1951 vollendete Erste Symphonie, in der ein deutlicher stilistischer Umbruch zwischen dem ersten und dem zweiten Satzpaar, die jeweils attacca ineinander übergehen, stattfindet. Sind in der relativen Geradlinigkeit der ersten zwei Sätze (Passacaille et Scherzo) noch die Fingerabdrücke der Roussel-Dukas-Abkunft vernehmlich, so begibt er sich mit den letzten zwei Sätzen auf fantastischere, metrisch weniger reguläre Pfade. Insgesamt ist diese Symphonie einer der großen Höhepunkte französischer Symphonik der klassischen Moderne, neben Roussel, der Zweiten von Florent Schmitt, den Symphonien Jolivets, des Schweizers Honegger und Milhauds. Ist sie in dem dunkel gleißenden, prachtvoll herben und gelegentlich bedrohlichen Tonfall von eher stilistisch fusionierender Natur und trägt eigentlich geradezu Züge eines Reifewerks, so war sie doch für Dutilleux erst der geeignete Ausgangspunkt, um seine eigene Welt zu erkunden und von nun an mit jedem neuen Werk substantiell zu erweitern:
„In mir reifte diese fast intuitive Tendenz, ein Thema nicht von Anfang an in seiner gültigen Gestalt herauszustellen. Es ist eben keine zyklische Form - denn in der zyklischen Form ist das Thema von Beginn an so gegeben, wie beispielsweise in Debussys Quartett. In meiner Musik ist es anders: Ich benutze kleine Zellen, die allmählich entwickelt werden. Ich denke, daß ich dabei aus der Literatur beeinflußt wurde, von Proust und seiner Idee vom Gedächtnis. Es ist schwierig zu erklären, aber es ist wichtig, denn seit meiner Ersten Symphonie hat mich das vordringlich beschäftigt. Als ich begann, den kreativen Prozeß in dieser Weise zu verfolgen, war ich mir dessen keineswegs so bewußt. Es wurde mir erst später klar, und nach und nach machte ich von den dahinter verborgenen Möglichkeiten Gebrauch."