Augenmaß
Augenmaß

1. Der Eindruck bei der Betrachtung Domenico Tintorettos Tempera-Studien zur „Eroberung Konstantinopels durch die Venetianer" steht in frappierendem Gegensatz zu demjenigen beim ersten Betreten der „Sala del Maggior Con-siglio" im Dogenpalast, worin sich dieses monumentale Fresko befindet. Scheint in den Skizzen die Kraft der Dar­stellung und - so absurd das klingen mag - die räumliche Tiefe, die durch wenige, wie hingeworfen wirkende, Pin­selstriche entsteht, das Format von wenigen Quadratzentimetern buchstäblich zu sprengen, so herrschen an den Wänden der Sala ganz andere Gesetze: Die akribische Ausgestaltung jedes auch noch so winzigen Details des Schlachtgetümmels verliert sich angesichts der Dimension des Raumes schier ins Bodenlose. Daß Tintorettos Werk dennoch nicht zur bloßen Dekoration verkommt, zeigt, daß auch darin die künstlerische Strategie eines ästhetisch wachsamen Geistes steckt. Trotzdem: In den Skizzen eröffnen sich - zumindest dem heutigen Betrachter - nach Maßgabe aller künstlerischen Gestaltungskriterien vollendete Kunstwerke. Für das fertige Wandgemälde gilt dies nur unter Berücksichtigung sehr spezifischer Voraussetzungen.

2. Die Ambivalenz zwischen der Geschlossenheit des fragmentarisch Skizzenhaften und der Unvollständigkeit des Vollendeten, die mir häufig bei meiner eigenen kompositorischen Arbeit begenet, begründet nicht nur den tiefen Eindruck, den Tintorettos Werk auf mich gemacht hat, sondern hat mich auch darin bestärkt, mich dem Spannungs­feld zwischen diesen Polen kompositorisch auszusetzen. Es handelt sich dabei tatsächlich mehr um ein Sich-Aus-setzen als um ein Sich-Auseinandersetzen, geht es doch darum, das Einzelne -als Ausgangspunkt- in Beziehung zu setzen mit einem Ganzen, das man, wenn überhaupt,nur vage erahnen kann, da auch der Kontext, der die Zusam­menhänge zwischen beiden stiftet, im Laufe des kompositorischen Voranschreitens erst entstehen muß. Zur Klar­stellung: Ich spreche nicht von irgendeiner planlosen Bleistiftimprovisation, sondern davon, die Entwicklung eines ästhetischen Planes zu komponieren, was verständlicherweise zunächst einmal dazu führt, sich mehr auf das rech­te Augenmaß zu verlassen, da technische Strategien zusammen mit jenen kompositorischen Aufgabenstellungen, die sie überhaupt erst notwendig machen, zunächst einmal wachsen müssen. Mir ist nicht klar, ob so das Steno­gramm der Entstehung eines Werkes letzlich ein Werk entstehen läßt. Aber: Die Eroberung der weißen Wände beginnt auf dem Papier. Die des akustischen Raumes auch. In diesem, so hoffe ich, nimmt sie einen neuen Anfang.

Wolfram Schurig
Interpret/innen

Wolfram Schurig, Komposition
Klangforum Wien
Johannes Kalitzke, Dirigent

Termine
Location
Waagner-Biro-Halle
Konzert
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2000 | Schurig / Suppan / Mochizuki