Choc (Monumente IV)
Choc (Monumente IV) Antiphonen für großes Ensemble (1996)

Kalkulierter Gegenprall
Notizen zu Matthias Pintschers Ensemblestück Choc

Ein harter Tutti-Akkord, der nachzittert und ausschwingt: ein dumpfes Ziehen in den tiefen Streichern, ein leises Schnarren im Schlagzeug, ein glockiger Nachhall - dann, ganz unerwartet: eine kurze, zart sich erhebende Horn­ Melodie, die wie aus einer fernen Erin­nerung auftaucht und von mehreren Akkordsäulen kontrastiert wird - noch ein solcher Schlag, der die leise Horn­melodie beendet und gleichzeitig zum neuen Abschnitt, einem flirrenden Geräuschband als Negativbild zum furiosen Beginn, überleitet. Musikalische Welten prallen hier aufeinander, ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich ab. Wer etwas erwartet, ausge­worfene Netze weiterhören möchte, Geborgenheit erhofft und Entwick­lungen vermutet, begibt sich auf dün­nes Eis. Der Kontrast zwischensubtiler Introspektion und massivem Ausbruch ist das Prinzip: bildhafte Setzungen, akustisch immer changierend.

So beginnt Choc. Antiphonen für großes Ensemble des 27-jährigen Mat­thias Pintscher. Der Komponist wählte bewusst die französische Schreibweise als Titel für sein StückChoc ist ein gut zwanzig minütig es Werk für großes Ensemble, das sein Initial nicht aber sein "Programm", aus einem literari­schen Vorwurf empfing. Als vierter Teil von Pintschers großanglegtem "Monu­mento"-Zyklus verweist auch dieses Werk auf den französischen Symbolis­ten Arthur Rimbaud. Eine Zeile des Gedichts Barbare aus Les Illuminations wurde Ausgangspunkt der komposito­rischen Reflexion: "La musique, virement des gouffres et choc des glaçons aux astres". Übersetzen ließe sich die­se Passage etwa folgendermaßen:

"Die Musik, den Abgründen zugewandt, und Zusammenprall der Eiszei­chen im Gestirn". Der Zusammenprall - oder auch Gegenprall - , der die poe­tische Keimzelle des Gedichtes ausmacht, bildet denn auch die komposi­torische Idee des Werkes. Und zwar nicht nur im Hinblick auf die antipho­nale Anlage, sondern auch, was die Ausdrucksintensität der musikalischen Sprache anbetrifft. Der choc wird zum allegorischen Prinzip" des Stückes: als Setzung eines musikalischen Ereig­nisses und seines auskomponierten Nachklingens.

Der „Gegenprall" der musikalischen Welten - zwischen scheinbarer Geborgenheit und massiver Dramatik - ist aber nicht nur kompositorisches Prin­zip, sondern berührt den Hörer unmit­telbar. Insofern ist der „Schock" aus Rimbauds Gedicht auch ein Wahrneh­mungs-Schock des Hörers. Sehr viel deutlicher als in anderen Kompositio­nen ist in Choc die Hörperspektive auskomponiert. Nichts verläuft, wie die musikalische Entwicklung der ins­gesamt 31 kurzen Abschnitte es viel­ leicht suggerieren könnte. Wir dürfen nie sicher sein, ob in die wunderbar ausgehorchten Klangbänder am Rande der Stille oder in die intimen solistischen Ausschweifungen von Horn, Kla­rinette oder Oboe nicht im nächsten Moment einer dieser harten Rhythmus­blöcke hineinfährt. Besonders im ersten großen Hauptteil der Komposi­tion führt dies zu erheblichen Irritatio­nen.

"Wenn ich mit einem Stück beginne", so hat Matthias Pintscher erst jüngst, im Umfeld der Uraufführung seiner Fünf Orchesterstücke bei den Salzburger Festspielen geäußert, "so ent­wickelt sich aus der Besetzung heraus ein klangliches Vokabular, und dann entsteht ein Katalog von Gestalten, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, und daraus entwickelt sich dann die Dramaturgie." Und diese Dra­maturgie hat gerade in jüngster Zeit eine markante Wegänderung erfahren: Pintschers Tonsatz ist heute lichter, durchsichtiger, klangfarblich noch differenzierter, auch - im positiven Sinne - geschliffener geworden.

Sicherlich steht, besonders seit der Arbeit an dem Musiktheaterwerk Thomas Chatterton (nach einer Vorlage von Hans Henny Jahnn), seine intensive Beschäftigung mit der menschli­chen Stimme hiermit in Verbindung: „Was die Veränderung des Tonsatzes durch die Arbeit mit der menschlichen Stimme angeht", so der Komponist, „dass sich der frühere Kompaktklang des Orchestersatzes (wie zum Beispiel in „Dunkles Feld") nicht nur gelichtet hat, vielmehr ist er zunehmend spek­tral aufgebrochen, differenzierter, Kon­turen sind stärker - und ungemischter - ausgezeichnet, plastischer; ich ver­suche, die Wirklichkeit einer klangli­chen Gestalt nicht mehr mit flankieren­ den Konkurrenten zuzuschütten oder zu relativieren, das kommt ja nur aus einer Unsicherheit gegenüber der Setzung heraus." Sehr viel deutlicher wird neuerdings ein perspektivisches Den­ken verfolgt, das Freiräume eröffnen, Ballast wegräumen, Räume und Felder eingrenzen und Staffagen „wegstellen" soll. Zentraler Punkt dieser perspekti­vischen Entwicklungen und Überlegun­gen ist denn auch folgerichtig die Konzentration auf das klangliche Ereignis oder die klingende Gestalt. Wie sieht nun das dramaturgische Konzept von Choc mit Blick auf die klangliche Ausprägung aus?

Die Besetzung sieht vier Klanggruppen vor: Gruppe I besteht aus vier Hölzbläsern, Gruppe II aus vier Blechbläsern, Gruppe III aus Harfe, zwei Klavieren und Schlagzeug, und die vierte Grup­pe bilden die Streicher. Was wie eine nicht ungewöhnliche Besetzung erscheint, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als eine wichtige Voraussetzung für die kompositorische Arbeit selbst: die verschiedenen Klanggruppen haben ihre jeweilige, durch die Instrumente geprägte Charakteristik und bilden so eine je eigene Schicht, sie können sich aber auch gegenseitig durchdringen, über­lagern, vermischen oder auch emp­findlich aneinander reiben. Dies führt zu einer erstaunlichen Klangfarbenviel­falt, deren Spektrum noch durch neuartige und ungeheuer differenziert ausgeklügelte Spieltechniken erweitert wird.

Das Prinzip der kompositorischen Formung, das aus dieser dramaturgischen Disposition abgeleitet wird, ist klar und überrascht doch: Klangfiguren, die sich anziehen und sich näherkom­men, entfernen sich doch im Näher­ kommen immer weiter voneinander. Dies ist ein bemerkenswertes Hör­erlebnis in Choc, dass es kaum einmal zur Verschmelzung der verschiedenen musikalischen Aggregatzustände kommt. Solches Setzen gegenseitiger Welten erzwingt die Aufmerksamkeit mühelos und erreicht, dass der Hörer nicht abschweift. Die Pole bilden denn auch zwei Extreme: Harte, kantige Blöcke, rhythmisch klar herausgemeißelt, meist im Tutti gesetzt mit deutlichem Akzent auf den Bläsern und dem Schlagzeug auf der einen Seite - „affetuoso", „impetuoso" oder „molto feroce" steht über solchen Passagen. Auf der anderen Seite: viele schwebende Klänge im Pianobereich, sehr viele gedämpfte Farben, häufiges Glissando in höchsten Bereichen, tonlos und lontano im Ausdruck, kaum gegenständlich Greifbares; ,,wattiger Klang" steht einmal als Vortragsbezeichnung über dem Klavier - „con nostalgia", ,,sospeso", „irreale", ,,deli­ cato" oder auch einmal versunken: „vor sich hin ..." sind diese Schat­tenklänge bezeichnet.

Die auffahrende Geste, mit der dieser Teil schließt, ist nicht wirklich ein Endpunkt, sondern steuert in dramatische Regionen, die nach Ausbruch verlan­gen, vom Komponisten aber hier wie andernorts in Choc versagt wird. Die Generalpause bricht einen perkussiven Puls unvermittelt ab und lässt die hochvirtuos zurückgelegte Strecke einfach im Nichts stehen. Der Nachklang bebt noch, als wie in einem leicht ver­zerrten Spiegel der Anfangsakkord des Stückes noch einmal eingeblendet wird.

Ein kurzes Irrlicht allerdings nur, denn die zweite und letzte Generalpause des Werkes - diesmal soll sie etwa neun Sekunden ausgehalten werden - staucht die Achse auf einen einzigen Moment zurück. Diese drei Takte sind nicht wirklich eine Spiegelachse, gleichwohl ließe sich insofern davon reden, als im ersten Teil ein großes Crescendo und im zweiten Teil ein ebenso großes Decrescendo auskomponiert wird.

Dieser lange Schluss von Choc ist nun überaus suggestiv gestaltet. Sehr wohl gibt es auch in diesem Teil jene Einbruchstellen des skandierenden Tutti in die Atmosphäre entfernter Klänge, aber insgesamt ist eine Intensivierung des Ausdrucks zu erkennen, der die vorangetriebene Abnahme der klangli­chen Dichte korrespondiert. Gleich­wohl lässt sich kaum von einem Energieverlust sprechen: die Spannung wird gehalten und tendiert selbst in der Zurücknahme zur Entladung. Ein interessantes Phänomen, das den gesamten Verlauf von Choc bestimmt hat, indem sich nämlich aus den Spannungs- und Entladungszuständen eine klanggewordene Energie gebildet hat, die erst im letzten Abschnitt der Komposition sukzessiv abgebaut wird. Obgleich die beiden Klarinetten in tiefen Regionen einen intimen, janusge­sichtigen Dialog führen, ist doch die Bewegung des Klanges allmählich in die Höhe gerichtet: ein kurzes Solo der Harfe, die ein Glissando über den gesamten Resonanzbereich auszu­führen hat, beschreibt den Beginn des eigentlichen Epilogs und bleibt im höchsten Bereich hängen. Die Musik nimmt eine deutlich andere, lichtere, in zarte Farben getauchte Perspektive ein - der Komponist denkt sie sich „lichthell, irreal, wie von fern". Der Harfe ist ein Satz aus Djuna Barnes' Versdrama „Antiphon" - das auch mit dem Untertitel der Komposition zu assoziieren ist - mitgegeben, der die Aura dieser Musik der Ferne einzufangen versucht: „still, wie Seide, die über eine unsichtbare Kette gleitet", heißt es dort. Die Klänge verlassen jetzt vollends ihre Hülle und bilden nur ein flirrendes Ineinander von stehenden Tönen, Glissandi oder Flageo­etts. Für die Geigen und Bratschen hat der Komponist jeweils zwei Mobi­les entworfen, die frei untereinander kombiniert werden können, jedoch unaufhörlich und ohne Unterbrechung bis zum verlöschenden Schluss ausge­führt werden sollen: Gefrorene Glis­sandoeiskristalle. Senkt sich in Mat­thias Pintschers Metamorfosi di Narci­ so die Musik am Ende in eine dunkle Tiefe hinab, so erhebt sie sich in Choc in einen Klangraum der Stille. Die Auflösung der Strukturen endet schließ­lich nach einer langen, intensiven Strecke im Nichts.

Thomas Schäfer
Interpret/innen

Klangforum Wien
Dirigent: Sylvain Cambreling

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Österreichische Erstaufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 1998 | Heinisch/Pintscher