Kalkulierter Gegenprall
Notizen zu Matthias Pintschers Ensemblestück Choc
Ein harter Tutti-Akkord, der nachzittert und ausschwingt: ein dumpfes Ziehen in den tiefen Streichern, ein leises Schnarren im Schlagzeug, ein glockiger Nachhall - dann, ganz unerwartet: eine kurze, zart sich erhebende Horn Melodie, die wie aus einer fernen Erinnerung auftaucht und von mehreren Akkordsäulen kontrastiert wird - noch ein solcher Schlag, der die leise Hornmelodie beendet und gleichzeitig zum neuen Abschnitt, einem flirrenden Geräuschband als Negativbild zum furiosen Beginn, überleitet. Musikalische Welten prallen hier aufeinander, ziehen sich gegenseitig an und stoßen sich ab. Wer etwas erwartet, ausgeworfene Netze weiterhören möchte, Geborgenheit erhofft und Entwicklungen vermutet, begibt sich auf dünnes Eis. Der Kontrast zwischensubtiler Introspektion und massivem Ausbruch ist das Prinzip: bildhafte Setzungen, akustisch immer changierend.
So beginnt Choc. Antiphonen für großes Ensemble des 27-jährigen Matthias Pintscher. Der Komponist wählte bewusst die französische Schreibweise als Titel für sein Stück: Choc ist ein gut zwanzig minütig es Werk für großes Ensemble, das sein Initial nicht aber sein "Programm", aus einem literarischen Vorwurf empfing. Als vierter Teil von Pintschers großanglegtem "Monumento"-Zyklus verweist auch dieses Werk auf den französischen Symbolisten Arthur Rimbaud. Eine Zeile des Gedichts Barbare aus Les Illuminations wurde Ausgangspunkt der kompositorischen Reflexion: "La musique, virement des gouffres et choc des glaçons aux astres". Übersetzen ließe sich diese Passage etwa folgendermaßen:
"Die Musik, den Abgründen zugewandt, und Zusammenprall der Eiszeichen im Gestirn". Der Zusammenprall - oder auch Gegenprall - , der die poetische Keimzelle des Gedichtes ausmacht, bildet denn auch die kompositorische Idee des Werkes. Und zwar nicht nur im Hinblick auf die antiphonale Anlage, sondern auch, was die Ausdrucksintensität der musikalischen Sprache anbetrifft. Der choc wird zum „allegorischen Prinzip" des Stückes: als Setzung eines musikalischen Ereignisses und seines auskomponierten Nachklingens.
Der „Gegenprall" der musikalischen Welten - zwischen scheinbarer Geborgenheit und massiver Dramatik - ist aber nicht nur kompositorisches Prinzip, sondern berührt den Hörer unmittelbar. Insofern ist der „Schock" aus Rimbauds Gedicht auch ein Wahrnehmungs-Schock des Hörers. Sehr viel deutlicher als in anderen Kompositionen ist in Choc die Hörperspektive auskomponiert. Nichts verläuft, wie die musikalische Entwicklung der insgesamt 31 kurzen Abschnitte es viel leicht suggerieren könnte. Wir dürfen nie sicher sein, ob in die wunderbar ausgehorchten Klangbänder am Rande der Stille oder in die intimen solistischen Ausschweifungen von Horn, Klarinette oder Oboe nicht im nächsten Moment einer dieser harten Rhythmusblöcke hineinfährt. Besonders im ersten großen Hauptteil der Komposition führt dies zu erheblichen Irritationen.
"Wenn ich mit einem Stück beginne", so hat Matthias Pintscher erst jüngst, im Umfeld der Uraufführung seiner Fünf Orchesterstücke bei den Salzburger Festspielen geäußert, "so entwickelt sich aus der Besetzung heraus ein klangliches Vokabular, und dann entsteht ein Katalog von Gestalten, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, und daraus entwickelt sich dann die Dramaturgie." Und diese Dramaturgie hat gerade in jüngster Zeit eine markante Wegänderung erfahren: Pintschers Tonsatz ist heute lichter, durchsichtiger, klangfarblich noch differenzierter, auch - im positiven Sinne - geschliffener geworden.
Sicherlich steht, besonders seit der Arbeit an dem Musiktheaterwerk Thomas Chatterton (nach einer Vorlage von Hans Henny Jahnn), seine intensive Beschäftigung mit der menschlichen Stimme hiermit in Verbindung: „Was die Veränderung des Tonsatzes durch die Arbeit mit der menschlichen Stimme angeht", so der Komponist, „dass sich der frühere Kompaktklang des Orchestersatzes (wie zum Beispiel in „Dunkles Feld") nicht nur gelichtet hat, vielmehr ist er zunehmend spektral aufgebrochen, differenzierter, Konturen sind stärker - und ungemischter - ausgezeichnet, plastischer; ich versuche, die Wirklichkeit einer klanglichen Gestalt nicht mehr mit flankieren den Konkurrenten zuzuschütten oder zu relativieren, das kommt ja nur aus einer Unsicherheit gegenüber der Setzung heraus." Sehr viel deutlicher wird neuerdings ein perspektivisches Denken verfolgt, das Freiräume eröffnen, Ballast wegräumen, Räume und Felder eingrenzen und Staffagen „wegstellen" soll. Zentraler Punkt dieser perspektivischen Entwicklungen und Überlegungen ist denn auch folgerichtig die Konzentration auf das klangliche Ereignis oder die klingende Gestalt. Wie sieht nun das dramaturgische Konzept von Choc mit Blick auf die klangliche Ausprägung aus?
Die Besetzung sieht vier Klanggruppen vor: Gruppe I besteht aus vier Hölzbläsern, Gruppe II aus vier Blechbläsern, Gruppe III aus Harfe, zwei Klavieren und Schlagzeug, und die vierte Gruppe bilden die Streicher. Was wie eine nicht ungewöhnliche Besetzung erscheint, erweist sich jedoch bei näherem Hinsehen als eine wichtige Voraussetzung für die kompositorische Arbeit selbst: die verschiedenen Klanggruppen haben ihre jeweilige, durch die Instrumente geprägte Charakteristik und bilden so eine je eigene Schicht, sie können sich aber auch gegenseitig durchdringen, überlagern, vermischen oder auch empfindlich aneinander reiben. Dies führt zu einer erstaunlichen Klangfarbenvielfalt, deren Spektrum noch durch neuartige und ungeheuer differenziert ausgeklügelte Spieltechniken erweitert wird.
Das Prinzip der kompositorischen Formung, das aus dieser dramaturgischen Disposition abgeleitet wird, ist klar und überrascht doch: Klangfiguren, die sich anziehen und sich näherkommen, entfernen sich doch im Näher kommen immer weiter voneinander. Dies ist ein bemerkenswertes Hörerlebnis in Choc, dass es kaum einmal zur Verschmelzung der verschiedenen musikalischen Aggregatzustände kommt. Solches Setzen gegenseitiger Welten erzwingt die Aufmerksamkeit mühelos und erreicht, dass der Hörer nicht abschweift. Die Pole bilden denn auch zwei Extreme: Harte, kantige Blöcke, rhythmisch klar herausgemeißelt, meist im Tutti gesetzt mit deutlichem Akzent auf den Bläsern und dem Schlagzeug auf der einen Seite - „affetuoso", „impetuoso" oder „molto feroce" steht über solchen Passagen. Auf der anderen Seite: viele schwebende Klänge im Pianobereich, sehr viele gedämpfte Farben, häufiges Glissando in höchsten Bereichen, tonlos und lontano im Ausdruck, kaum gegenständlich Greifbares; ,,wattiger Klang" steht einmal als Vortragsbezeichnung über dem Klavier - „con nostalgia", ,,sospeso", „irreale", ,,deli cato" oder auch einmal versunken: „vor sich hin ..." sind diese Schattenklänge bezeichnet.
Die auffahrende Geste, mit der dieser Teil schließt, ist nicht wirklich ein Endpunkt, sondern steuert in dramatische Regionen, die nach Ausbruch verlangen, vom Komponisten aber hier wie andernorts in Choc versagt wird. Die Generalpause bricht einen perkussiven Puls unvermittelt ab und lässt die hochvirtuos zurückgelegte Strecke einfach im Nichts stehen. Der Nachklang bebt noch, als wie in einem leicht verzerrten Spiegel der Anfangsakkord des Stückes noch einmal eingeblendet wird.
Ein kurzes Irrlicht allerdings nur, denn die zweite und letzte Generalpause des Werkes - diesmal soll sie etwa neun Sekunden ausgehalten werden - staucht die Achse auf einen einzigen Moment zurück. Diese drei Takte sind nicht wirklich eine Spiegelachse, gleichwohl ließe sich insofern davon reden, als im ersten Teil ein großes Crescendo und im zweiten Teil ein ebenso großes Decrescendo auskomponiert wird.
Dieser lange Schluss von Choc ist nun überaus suggestiv gestaltet. Sehr wohl gibt es auch in diesem Teil jene Einbruchstellen des skandierenden Tutti in die Atmosphäre entfernter Klänge, aber insgesamt ist eine Intensivierung des Ausdrucks zu erkennen, der die vorangetriebene Abnahme der klanglichen Dichte korrespondiert. Gleichwohl lässt sich kaum von einem Energieverlust sprechen: die Spannung wird gehalten und tendiert selbst in der Zurücknahme zur Entladung. Ein interessantes Phänomen, das den gesamten Verlauf von Choc bestimmt hat, indem sich nämlich aus den Spannungs- und Entladungszuständen eine klanggewordene Energie gebildet hat, die erst im letzten Abschnitt der Komposition sukzessiv abgebaut wird. Obgleich die beiden Klarinetten in tiefen Regionen einen intimen, janusgesichtigen Dialog führen, ist doch die Bewegung des Klanges allmählich in die Höhe gerichtet: ein kurzes Solo der Harfe, die ein Glissando über den gesamten Resonanzbereich auszuführen hat, beschreibt den Beginn des eigentlichen Epilogs und bleibt im höchsten Bereich hängen. Die Musik nimmt eine deutlich andere, lichtere, in zarte Farben getauchte Perspektive ein - der Komponist denkt sie sich „lichthell, irreal, wie von fern". Der Harfe ist ein Satz aus Djuna Barnes' Versdrama „Antiphon" - das auch mit dem Untertitel der Komposition zu assoziieren ist - mitgegeben, der die Aura dieser Musik der Ferne einzufangen versucht: „still, wie Seide, die über eine unsichtbare Kette gleitet", heißt es dort. Die Klänge verlassen jetzt vollends ihre Hülle und bilden nur ein flirrendes Ineinander von stehenden Tönen, Glissandi oder Flageoetts. Für die Geigen und Bratschen hat der Komponist jeweils zwei Mobiles entworfen, die frei untereinander kombiniert werden können, jedoch unaufhörlich und ohne Unterbrechung bis zum verlöschenden Schluss ausgeführt werden sollen: Gefrorene Glissandoeiskristalle. Senkt sich in Matthias Pintschers Metamorfosi di Narci so die Musik am Ende in eine dunkle Tiefe hinab, so erhebt sie sich in Choc in einen Klangraum der Stille. Die Auflösung der Strukturen endet schließlich nach einer langen, intensiven Strecke im Nichts.