„Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser lnnres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direkt zum Innern und käme aus dem Innern. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei. Die ,absolute Musik' ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaß und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwicklung beide Künste verbunden waren und endlich die musikalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. [...] An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom ,Willen', vom ,Dinge an sich'; das konnte der lntellekt erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des innern Lebens für die musikalische Symbolik erobert hatte. Der lntellekt selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt: wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist."
Nietzsche
Wie unscheinbar das sensationellste Moment dieser Passage formuliert ist, erstaunt: die Reduktion der materiellen Bestimmung der Musik auf sage und schreibe nur noch zwei Parameter, nämlich „rhythmische Bewegung" sowie „Stärke und Schwäche des Tones", zur Einheit des Phänomens sodann zusammengefasst als „Erklingen in Zeitmaß und verschiedener Stärke". Melodik und Harmonik kommen überhaupt nicht mehr vor. Es ist, als hätte Nietzsche, der ein großer Antizipator war, schon jene Theorie gekannt und stillschweigend vorausgesetzt, die erst anfangs der zweiten Hälfte des 20 . Jahrhunderts von Karlheinz Stockhausen entworfen ward, um die Möglichkeit des integralen seriellen Konstruktivismus zu fundieren: Tonhöhen und Klangfarben seien, weil durch Schwingungsvorgänge in der Zeit hervorgebracht, die sich durch ihre Phasenlängen jeweils definieren, eben in Wahrheit auch nichts anderes als Rhythmen - ,,Mikrorhythmen" halt - , die sich von den anderen - den „Makrorhythmen" - zwar durch ihre spezifische Wahrnehmungsqualität kategorial unterscheiden, aber denselben kompositionstechnischen Organisationsprinzipien unterworfen werden können wie alles Zeitliche hinieden. Man unterschätze also nicht die Avanciertheit des Musiktheoretikers Nietzsche, dessen Reflexionen allerdings im Hinblick auf Christian Ofenbauers unordentliche inseln / de la motte-fouqué-vertonung mehr unter dem zu mannigfaltigen Zweifeln, letztlich zur Verzweiflung ein ladenden Aspekt der „Bedeutsamkeit" von Geschriebenem und Erklingendem interessieren. Historisch zugegangen sein könnte es nämlich folgender maßen. Als die „uralte Verbindung" zwischen Poesie und Musik, einer der ehrwürdigsten Bestände wohl sogar aus dem phylogenetischen Inventar der Menschheit, endgültig zerbrochen war, weil Geschichte alles auflöst, entstand als Versuch, den verlorengegangenen Sinn des Verhältnisses zwischen Wort und Ton zu rekonstruieren, ja ihre Vereinigung neu zu stiften, die Vertonung. Sie ist also eine willentlich veranstaltete Operation des kompositorischen Subjekts, nichts diesem natürlich oder kulturell Verbürgtes, mögen auch Bräuche auf diesem Gebiet eingerissen und ganze Gattungen aufgekommen und wieder verschwunden sein: schließlich gehört die allermeiste Vokalmusik - einschließlich sogar liturgischer Formen - im Kulturkreis des alphanumerischen Codes dem Vertonungstypus zu. Dieser ist selbstredend einem Komponisten, der unlängst eine Oper vollendet hat, konstitutionell nicht fremd, technisch ohne Einschränkung zugänglich und im Prinzip kaum unsympathisch. Den Wunsch, Friedrich de la Motte-Fouqués außerordentliche Zeilen, die einem den Atem stillstehen lassen, zu vertonen, kann man ihm nachfühlen, muss sich aber, um den Fortgang des Abenteuers zu verstehen, wenn nicht sofort, so doch nach und nach von der dilettantischen Vorstellung verabschieden, der Künstler sei in dieser Welt derjenige, dem es vergönnt sein möchte, sich seine Wünsche - zumindest seine künstlerischen - zu erfüllen. Zum Problem wurde ihm nämlich zunächst die Präsenz einer Sängerin im Stück. Wieso? Mag er keine Sängerinnen? O ja, wahrscheinlich sogar sehr. Allein, darauf kommt es nicht unbedingt an, denn es könnte sein, dass eine Musik, die als Phänomen so wenig mit der Cageschen gemein hat wie die Ofenbauersche, ihr in einem einzigen Punkt, den man freilich nicht gleich für ihr Wesen zu halten braucht, gleicht: vielleicht ist sie relativ unabhängig von den Vorlieben und Abneigungen ihres Verfassers. Dass es darüber eine ältere, leider mittlerweile vergessene Theorie gibt, soll noch gestreift werden, wenn der narrative Teil dieser Einführung vorüber ist. Die Sängerin rückte also in einem fortgeschritteneren Stadium des Kompositionsprozesses ans Ende des Stückes, was aber nicht reichte, sie dem Komponisten - oder der Komposition? - erträglich zu machen; vielmehr wurde sie zum Gegenstand von Erwägungen darüber, ob sie mit dem Rücken zum Publikum singen oder ob gar als Substitut ein Tonband mit dem elektroakustischen Abbild ihrer Stimme in die Aufführung „einzuspielen" sei. Es erfolgte dann das, was Ofenbauer als „Umlenkung" beschreibt: „Das Ganze hat sich in eine andere Richtung entwickelt."
Der Vokalpart verflüchtigte sich zu Nichts. zugleich ging er zur ästhetischen Totalität auf: er wurde der geheime Bauplan des Stücks. Der Instrumentalpartitur, in welche gemäß der Hegelschen „Furie des Verschwindens" und der Adornoschen „negativen Dialektik" die Vertonungsabsicht umgeschlagen ist, steht als Lesemotte eine Vertonung der de la Motte-Fouquéschen Worte im Violinschlüssel, aber nicht für Singstimme, voran: nicht aufzuführen. Diese textierten und für die Imagination des Lesers durch minutiöseste Vortragsbezeichnungen gesicherten Noten sind die eigentliche Programmeinführung in unordentliche inseln / de la motte-fouqué-vertonung, die keine Vertonung ist, ähnlich wie das über diesen Zeilen stehende Nietzsche-Motto diese Programmeinführung expliziert, die keine ist.
Die „Umlenkung" entband manche für Ofenbauer neue Techniken, deren denkbare - oder undenkbare - Folgen in seinem künftigen Œuvre dahinstehen, deren Ort in diesem Stück jedoch genau definiert ist: Wiederholung von Partikeln als Beitrag zur Schwebe, in der das Ganze gehalten wird, dessen Formsinn mitnichten von einem Anfang zu einem Ende läuft. Gemeint ist Ewigkeit, doch „es währt nicht lang". Der leise Schluss ist, wie der Komponist durchblicken ließ, „ein Rest der Sängerin". - Nimmt man die „umgelenkte" Komposition als einen Sieg des Werks über den Künstler, so muss, um das kunsttheoretische Verständnis eines derartigen Vorgangs nachzuholen, jetzt an Willi Baumeisters Buch Das Unbekannte in der Kunst erinnert werden, das im zweiten Weltkrieg, während der deutschen Mörderherrschaft, auf der Flucht vor der Gestapo geschrieben und 1947 publiziert worden ist. Den Kern der Baumeisterschen Abhandlung bildet die These, dass Epigonen und originalen Künstlern die fast unvermeidliche Gemeinsamkeit eignet, dass sie sich Ziele vornehmen, die sie zu erreichen trachten; diese Ziele sind prinzipiell bekannt, zumindest den jeweiligen Künstlern. Epigonen zeichnen sich nun dadurch aus, dass sie ihre Visionen
- vorausgesetzt, es gebricht ihnen nicht am erforderlichen technischen Können
- zu verwirklichen verstehen: es ist ihre Funktion, die Kultur des Bekannten zu tragen. Originalen Künstlern hingegen misslingen ihre Absichten, weil ihre Arbeit Eigenkräfte entwickelt, die so stark sind, dass der Künstler nichts gegen sie vermag. ,,Objektive" Kräfte, wie sie stets in der Erzeugung authentischer Kunstwerke wirken, scheren sich um nichts, am allerwenigsten darum, ob der Künstler selber sie begrüßt oder beklagt: sie gravitieren ins Unbekannte. Daher wird Fortschritt einzig durch sie ermöglicht. Für das Maß ihrer Abweichung von der Zielgeraden der künstlerischen Intention führte Baumeister den Begriff des „schöpferischen Winkels" ein. Offenbar ist er im Falle von unordentliche inseln / de la motte-fouqué vertonung beträchtlich.