In Girum. lmus. Nocte
In Girum. lmus. Nocte für großes Orchester (1991)

Die Beschwörung der Nacht, der musikalische Versuch, sich der nächtlichen Schimäre mittels Notturnos zu nähern, entspringt nicht allein der Sehnsucht verklärender Gemüter. Zumal antiromanti­sche, erkenntnishungrige Geister haben sich für die Regeln der Nacht interessiert und somit Blanchots Frage „Ist das der Name der Nacht?" vertieft: welches sind die Phoneme der Nacht?

Auch Karlheinz Essl liebt den Grund der Dinge. Ihn fasziniert das Dunkel der Nacht, nicht weil man im Finstern wie E.T.A. Hoffmann die Welt anders, sondern weil man sie nicht mehr sieht. In Girum. lmus. Nocte - erster Teil eines Palindroms, dessen Spiegelbild ... et consumimur igni bereits zum Titel eines Essl-Werkes aus­erkoren wurde - beschreibt diesen Zustand: ,,Wir irren des Nachts umher."

Drei Teile hat der von Essl mit Punkten zergliederte Satz, drei Teile das 1991 komponierte Orchesterwerk, wobei jeder Abschnitt eine neue Hörweise der gleichen musikalischen Charaktere erlaubt. ,,In Girum" - Material wird exponiert, labyrinthisch aus- und kontra­punktisch übereinandegebreitet, ein Chaos, das zwar Ordnungs­prinzipien unterliegt, welche indes aufgrund ihrer Komplexität nicht erkennbar sind. Der Nachtwanderer irrt kreisend im Wald, da er den Weg verloren hat. ,,lmus" - Eine Achtelbewegung behauptet sich, ein Ordnungsprinzip schlichtet das Chaos, weniger sichtbar als spürbar. Wo den Augen ein Licht noch fehlt, ertasten die Füße bereits den Weg, der Nachtwanderer beginnt zu gehen. ,,Nocte" - Verweilen des Materials, Ausbreitung der vorher nervös angerisse­nen Klänge. Versenkung in die Nacht und Vertrauen auf die eigene Wahrnehmung, die sich der lichtlosen Situation angepasst hat, indem sie die gewohnten, hie aber untauglichen Wahrnehmungs­mechanismen durch neue, womöglich nie bewusst verwendete, ersetzt hat.

In Girum. lmus. Nocte ist gewissermaßen ein Lehrstück. Kompo­sitionen, die Wahrnehmung thematisieren, hoffen auf die Indivi­dualität ihrer Hörer. Sie sind insofern einer Aufklärung verpflichtet, deren Parole weder „verstehen", noch „erleben" sondern „Erleben verstehen" heißt. Dem kommunikativen Gehalt der Musik misstraut Essl hingegen, er will den Hörer in ein musikalisches Labyrinth führen, durch das es nur einen Weg gibt, im Verlaufe dessen die Hörer „etwas Schönes erwartet". Der Komponist lädt zum Mitent­decken ein, sowohl aus Stärke, weil er sich des reichen Weges sicher ist, wie aus Schwäche, weil das eigene Verfahren etwas von der Unsicherheit eines Labyrinthgängers enthält. Dafür bürgt Essls Komponieren, als dessen untergeordnetes und doch zentrales Werkzeug der Computer erscheint.

Dank der Auseinandersetzung mit der Poetik John Cages erkannte Essl, dass dem Musik-Können das Musik-Wollen oft im Wege steht. Der Computer zwingt den Wissenshungrigen nicht nur, den Kern seines Wollens so herauszuschälen, dass der Computer es „verste­hen" kann, er bedankt sich dafür auch mit einer Radikalität, die ihrerseits Grenzen aufreißt und dem Komponisten ein neues Können abringt.

In Essls Orchesterwerk werden die vom Computer errechneten zeitlichen Strukturen einer Handvoll musikalischer Charaktere unter des Komponisten Feder zu einer umfangreichen Klangwelt aufge­fächert. Diese skelettartigen Charaktere - einer heißt „Schatten" und besteht in Impuls und klanglichem Nachzittern, ein anderer heißt „Feld" - sind als Reinform, in der sie das digitale Environment der Esslschen Software liefert, nicht vorstellbar, sie bedürfen erst der Bewegung, der Interpretation, um Musik zu werden. Erst diese Interpretation macht die Unterschiede der drei Abschnitte nachhör­bar, wenngleich jene bereits bei der Programmierung des Compu­ters angestrebt wurden. Oberstes Gebot ist jedoch das subjektive Reagieren des Komponisten auf den Prozess des Werkes, der die Komposition interaktiv lenkt. Essl: ,,Ähnliche Konstellationen kön­nen sich so aufgrund des bereits zurückgelegten Weges und den dabei gewonnenen Erfahrungen als neuartige Gestalten manifestie­ren." Essl komponiert sein Werk, als höre er es zum ersten Mal, das Hoffen auf die Individualität der Hörer entspringt mithin dem Vertrauen auf die eigene.

Die musikalischen Charaktere irren im Abschnitt „In Girum" quer durch die Instrumente - eine geräuschbetonte Musik, in der metallene Schläge der umfangreichen Perkussion am ehesten den Kern eines Charakters markieren. Die stotternden Einsätze in den durchwegs solistisch geführten Orchestergruppen sind zwar ein Merkmal der gesamten Partitur, hier aber entbehren sie jeglicher Linearität. Somit entsteht eine strömende Klangwelt, deren Farben verschwimmen. In „lmus" dagegen werden die Liegeklänge vor allem rhythmisch interpretiert, was zunächst klarere Strukturen suggeriert. Diese aber sind wiederum in verwirrender Weise auf das gesamte Orchester verteilt und zudem mit Vokabeln aus „In Girum" durchmischt. Erst in „Nocte" erlaubt Essl die Konzentration auf seine Vokabeln, ihre Phoneme werden bedächtig aneinandergereiht. Der Name der Nacht ist durchbuchstabiert.

Christoph Becker
Interpret/innen

RSO Wien
Dirigent: Mario Venzago
Co-Dirigenten: Adolf Hennig, Peter Wolf

Kooperationen

Kompositionsauftrag des ORF

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Uraufführung