Der Titel Tableau bezieht sich auf Michel Foucaults Buch Die Ordnung der Dinge. Dort wird ein Tableau menschlicher Wahrnehmungsordnung ausgebreitet, werden Kategorisierungen vorgenommen. Und Kategorisierungen, der Komposition vorausgehen de Setzungen, liegen Helmut Lachenmanns Tableau zugrunde. Es sind bestimmte Klangtypen, die Lachenmann vorab, quasi· als Manuale seines persönlichen Instruments, definiert hat: massierte Unisonoklänge, getragen choralartige Linien, bestimmte Ein- und Ausschwingvorgänge von Klängen. Doch der Titel Tableau trägt noch weiter. Er verweist auf die Statik, auf das Flächige, Bildhafte der Komposition, auf die Vielzahl der Figuren, die das Ensemble bevölkern, ohne sich zur eindimensionalen Massenszene zu ordnen. Geht man ins Detail, sucht man das Tafelbild mit der Lupe ab, so findet man unter diesen Figuren alte Vertraute, oder in Lachenmanns Diktion, Archetypen des „ästhetischen Apparats": chromatische, diatonische und Ganzton-Skalen, Dur- und Molldreiklänge, übermäßige und Sept-Akkorde. Das ist vielleicht für den überraschend, der Lachenmann mit seinen Kompositionen der siebziger Jahre identifiziert, in denen musikalische Alltagsphänomene tabuisiert waren, in denen nur jenseits der Ränder des Klangs, dort, wo Klang noch nicht oder nicht mehr Klang ist, komponiert wurde. Doch Lachenmann will nicht immer wieder auf akustische Nebenschauplätze ausweichen, die, wie er selbst weiß, inzwischen von seinen Epigonen „touristisch erschlossen" sind. Er möchte, dass sich neues Hären auch im unverfremdeten Klang bewährt, auf dass es, so Lachenmann, zur „Erfahrung des unbekannt gewordenen Bekannten" komme.
Bekanntes gibt es, wie gesagt, in Tableau mehr als genug, doch verlässt sich Lachenmann keineswegs auf die programmierten Wirkungen der alten Mittel. Die tonalen Akkorde werden ziellos hin- und hergeschoben; die bekannten Klänge werden vom Orchester abgerufen, als würde man die Register einer überdimensionalen Orgel ziehen, aber sie werden nicht in die vertrauten Progressionen gebracht. ,,Der alte Zauber", so Lachenmann, ,,ist richtungslos geworden." Und so richtet sich das Hören dann weniger auf die Klänge und ihre intervallische Logik als vielmehr darauf, was zwischen ihnen passiert - und das erweist sich als unglaublich reich und differenziert; die Ein- und Ausklingvorgänge sind aufs feinste gestaltet; die Klänge werfen sozusagen Schatten voraus und hinterlassen Narben im akustischen Gewebe. In diesen subtilen Artikulationsvorgängen liegt eine wesentliche Qualität des Stücks, das damit direkt an die Klangphysiognomien von Lachenmanns Klavierkonzert Ausklang anknüpft, mit dem es auch die Vorliebe für langegehaltene, wechselnd kolorierte Unisoni und Zweiklänge teilt. Die Spuren von Lachenmanns früherem Komponieren, seiner ,,instrumentalen Musique concrete", sind dabei keineswegs getilgt: Beides, der schöne Klang und die geräuschhaften Aktionen, die ihn erst ermöglichen, sind nun aufeinander bezogen, werden als zwei Aspekte ein- und derselben Sache gezeigt. Freilich: Die alten Klänge, und sei es ein bloßes Unisono, eine banale Terz, haben ihre emotionale Eigendynamik, die in Tableau zwar gebrochen, aber nicht zerbrochen wird. Und diese getrübte, aber darin um so eindringlichere Emphase überzieht Lachenmanns Tableau mit einer eigenartigen, irritierenden Patina.
Die Partitur trägt den Vermerk „ vorläufig abgeschlossen", und es ist nicht ausgeschlossen, dass Lachenmann zwischen die Momente des jetzt gerade elfminütigen Tableaus weitere fügen wird, ja, dass Tableau nur einige Grundfiguren dessen exponiert, was einmal ein großes Konzertstück für Orchester und die acht Hörner werden könnet, die schon jetzt das Klangbild prägen. Als Vorahnung der 1992 für Hamburg geplanten Oper aber will Lachenmann das Stück nicht verstanden wissen.