„Die Sekte verschwand, aber in meiner Kindheit sah ich alte Männer, die lange auf dem Abtritt (der Bibliothek) verweilten, mit ein paar Metallscheiben in einem verbotenen Würfelbecher, kraftlos bemüht, die göttliche Unordnung zu steuern."
Für seine Arbeit an der Komposition Oh tiempo tus piramides scheint sich Karlheinz Essl jener Sekte, von deren Verschwinden aus der „Bibliothek von Babel" J. L. Borges erzählt, erinnert zu haben. Einer jener Buchstabenkombinationen, die im Chaos dieser unbegreiflich großen Bibliothek gefunden worden waren, den vier Worten „O Zeit, deine Pyramiden", verdankt das Werk seinen Namen. Während Borges' Sekte dem Schauer vor der Unendlichkeit durch neue, selbst erwürfelte Kombinationen der vorgegebenen Buchstaben beikommen wollte, begann Karlheinz Essl die Bestandteile seines musikalischen Materials neu anzufertigen, geordnet nach überlieferten Parametern, nach deren Kombinationsmöglichkeiten und Schattierungen.
Doch innerhalb jenes Strukturskelettes, das Abfolge und Prozesse dieser Klangpartikel steuert (und auf einem von Essl entwickelten Computerprogramm beruht, das G. M. Koenigs Programm „Projekt 1" transformiert), wird dem „verbotenen Würfelbecher", dem Faktor Zufall, Entscheidungsfähigkeit eingeräumt. Denn in das Chaos der Zeichen will Essl weder ausschließlich mit Determinismus, noch mit einem radikal unvorhersehbaren Würfelbecher ordnend eingreifen, und auch nicht lediglich mit der Objektivität einer vorgefertigten Struktur oder dem Pendant, seiner puren Subjektivität. Es ist das Spannungsfeld dieser vier Pole, das sich der Komponist geschaffen hat, um „so etwas wie eine eigene Syntax, eine künstliche Sprache" zu erstellen.
Das Werk Oh tiempo tus piramides hat neun Abschnitte, und diese klingende Rekonstruktion einer Sprache, die es nie gab, steuert auf Grund der computererrechneten Zufallsentscheidungen und vor allem den sie künstlerisch interpretierenden Kompositionsstrategien Karlheinz Essls auf einen Höhepunkt am Ende des siebten Abschnittes zu. Bevor das Erreichte im Epilog der letzten beiden Teile wiederum brüchig und löchrig wird, berührt das Stück mit einer kurzen, solistischen Melodie der Posaune eine Tradition, deren Vorgaben den Komponisten letztlich zum Erfinden einer eigenen Sprache veranlasst hatten.