Terra incognita
Terra incognita

In alten Landkarten steht „terra incognita“ über unerforschten Gebieten und bezeichnet damit oftmals auch Plätze des Geheimnisvollen und der Angst. Mag sein, dass die Antarktis das letzte Gebiet auf dieser Erde ist, für das dies zutrifft. Ich bin fasziniert von diesem legendären Land, seit ich zum ersten Mal die Geschichten des Captain Robert Falcon Scott und seiner Antarktis-Expedition in den Jahren 1910 bis 1912 gehört habe. Wie jedes englische Schulkind meiner Generation lernte auch ich, dass Scotts Versuch, als erster Mensch den Südpol zu erreichen, ein heroischer Misserfolg war. Ein Misserfolg deswegen, weil eine norwegische Gruppe Tage früher dort eintraf; heroisch, weil Scott und seine Begleiter auf dem Rückweg ums Leben kamen, ehe sie das Basislager an der antarktischen Küste erreichten. Für Scotts Geschichte wurde die Antarktis zur Landschaft der größten Herausforderung, moralischer und physischer Art. Später entdeckte ich eine Fülle an Literatur, in der die metaphorischen und tatsächlichen Herausforderungen beschrieben werden, denen man in extremer Kälte ausgesetzt ist. Dante steigt im 32. Gesang seines Inferno hinab in das frostige Zentrum der Hölle, in dem die Kälte die Geheimnisse der dort gefangenen treulosen Sünder offenbart:

Ognuna in già tenea volta la faccia:
Da bocca il freddo, e dalli occhi il cor tristo
Tra lor testimonianza si procaccia.
Nach unten das Gesicht gekehrt sie hatten
Vom Froste legte Zeugnis ab ihr Mund
Ihr Auge vom Gemüth, dem leidensmatten
(dt. Karl Bartsch)

In The Rime of the Ancient Mariner (Ballade vom alten Seemann) von Samuel Taylor Coleridge (1772 – 1834 London) passiert die verhängnisvolle Begegnung mit einem Albatros im frostigen südlichsten Ozean; die Folgerung daraus heißt, dass unser Menschenverstand, unser Urteilsvermögen in diesem unbekannten Land ins Wanken gerät:

And thro’ the drifts the snowy clifts
Did send a dismal sheen;
Ne shapes of men ne beasts we ken
The ice was all between.
Aus den kalten Klüften, den schneeigen Grüften
drang ein trostloses Weiß
– die Gestalten weder von Menschen noch Tieren
Erkannten wir – überall Eis!
(dt. Dietrich Feldhausen)

Analog dazu bietet auch Apsley Cherry-Garrards Buch über Scotts Expedition, The Worst Journey of the World, unwiderstehliche Gründe für die antarktische Erprobung der menschlichen geistigen und physischen Reserven. Garrard reiste mit Scott in die Antarktis, wurde jedoch nicht für die letzte Reise ausgewählt. Er sagte über die Erkundung dieses unbekannten Landes: „Unser Aufenthalt von drei Jahren war viel zu lang, noch ein Jahr mehr, und auch der Stärkste unter uns wäre verrückt geworden.“ Er schließt seinen Bericht dennoch mit dem Rat: „Wenn der Wunsch nach Wissen darüber da ist und die Kraft, dies körperlich umzusetzen, dann geh raus und forsche ... Wenn Du die winterliche Reise machst, erhältst Du Deine Belohnung.“ Scott notierte in seinen Tagebucheintragungen zur Südpolexpedition aus den Jahren 1910 bis 1912 peinlich genau die Distanzen, die er und seine Begleiter täglich zurücklegten, ebenso jegliche Aktivität sowie den gesundheitlichen Zustand aller Teilnehmer. Dank dieser Notizen entstehen Markierungen auf einer noch unbeschriebenen Landkarte – als hätten die Wege von Scotts Männern Spuren auf der Landkarte hinterlassen. A landscape without figures ist den musikalischen Entdeckern des Ives Ensemble zu deren 20. Geburtstag gewidmet. A slice through translucence nutzt dieselben zeitliche Strukturen und Erzählmuster, aber die Musik wird zunehmend komplexer, indem Verschiebungen, Verknüpfungen und Überlagerungen der Klänge in der Wahrnehmung des Hörers sich ständig ändernde Muster entstehen lassen. Dieser Teil ist Tom Service, dem Künstlerischen Leiter des Huddersfield Contemporary Music Festivals 2005 gewidmet. Dazwischen steht Thermogenesis – eine Demonstration dessen, wie sich ein Pianist in einer sehr kalten Atmosphäre warm zu halten versuchen kann. Gewidmet ist dies meiner Frau Susan McNally, die mir Wärme gibt. Der gesamte Zyklus ist dem Andenken an Luc Ferrari gewidmet, dessen Presque rien series dokumentarische Aufnahmen in wunderbar lebhafte Landkarten der Vorstellungskraft verwandelte.

Christopher Fox (Übersetzung: Sabine Franz)
Interpret/innen

Christopher Fox (GB), Komposition
ensemble recherche (D)
Martin Fahlenbock, Flöte
Shizuyo Oka, Klarinette
Jean-Pierre Collot, Klavier
Christian Dierstein, Schlagzeug
Ashot Sarkissjan, Violine
Åsa Åkerberg, Violoncello

Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Österreichische Erstaufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2009 | ensemble recherche /2009