Quatre Chants pour franchir le Seuil
Quatre Chants pour franchir le Seuil

Ich habe die Vier Gesänge um die Schwelle zu überschreiten als eine musikalische Meditation über den Tod in vier Abschnitten verfasst: der Tod des Engels, der Tod (Untergang) der Zivilisation, der Tod der Stimme und der Tod (das Ende) der Menschheit. Zwischen diesen vier Episoden sind jeweils kurze Zwischenspiele - unbe­ständige, schwebende Klangteilchen, die dazu bestimmt sind. ein Span­nungsniveau aufrecht zu halten, das ein wenig das höfliche aber erleichter­te Schweigen überlagert, das in den Konzertsälen zwischen dem Ende einer Episode und dem Beginn der darauffolgenden herrscht. Die ausge­wählten Texte stammen aus vier Kul­turen (christlich, ägyptisch, griechisch, mesopotamisch) und haben eines gemeinsam: eine fragmentarische Auseinandersetzung mit der Unausweichlichkeit des Todes. Die Gestal­tung wurde bestimmt durch die musi­kalische Anforderung, der anmutigen Leichtigkeit der Sopranstimme eine feierliche, gewichtige und doch prunk­volle und farbenprächtige Klangmasse gegenüberzustellen.

1 - Der Tod des Engels
nach „les heures de la nuit" (Die Stunden der Nacht) von Christian Guez-Ricord

Ich habe Christian Guez-Ricord in der Villa Medicis in der Zeit zwischen 1972 und 1974 kennengelernt, und wir haben wiederholt über eine mögli­che gemeinsame Arbeit gesprochen. Dann sind unsere Wege in verschiede­ne Richtungen gegangen, und meine Recherchen haben mich eine Zeitlang von der Vokalmusik entfernt. Sein Tod im Jahre 1988, der einem tragischen Leben ein Ende setzte, hat mich zutiefst erschüttert. Und noch mehr diese wenigen Verse, die einen stillen Höhepunkt bilden eines dichten, kraftvollen, mystischen Werks voller Bilder aus der jüdisch-christlichen Kul­tur, fast mittelalterlich anmutend in seiner steten Suche nach dem Gral.

Der Tod des Engels ist in der Tat der schrecklichste von allen, da wir hier alle unsere Träume begraben müssen. Mit ihrem Minimalismus hat diese ruhige und perfekt strukturierte Seite die Tempostrukturen dieser Episode in ihre Proportionen gezwängt. Ja mehr noch - diese Strukturen schim­mern auch den folgenden beiden Epi­soden der Quatres Chants durch. Es fällt einem das überschüssige Tempo in der metrischen Struktur auf, dieses leichte überströmen und vor allem dieser fatale Syntaxfehler, der das Todesurteil des Gedichtes und des Dichters besiegelt.

2 - Der Tod (Untergang) der Zivilisation
nach Ägyptischen Sarkophagen des Mittleren Reiches

Ich bin mit der ägyptischen Kultur so vertraut, dass ich ihr bereits drei Stücke gewidmet habe, darunter Jour (Tag), Contre-Jour (Gegentag), in denen sich das ferne Echo der Lektüre des Totenbuchs abzeichnet.

Beim Lesen dieses langen archäologischen Katalogs der auf den Sarko­phagwänden oder Mumienbinden ent­deckten Hieroglyphfragmenten habe ich spontan den Wunsch verspürt, diese langsame, getragene Litanei zu komponieren. Die Musik ist diatonisch, wenngleich gespickt mit Mikro­intervallen, und die Höhen der Akkor­de stammen aus den „Abfällen" (Resten) der ersten Episode.

3 - Der Tod der Stimme
nach Erinna

Erinna, eine frühe griechische Dichterin des VI. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, von der man so gut wie nichts weiß, hat uns diese beiden Verse hinterlassen. Die leere, das Echo, die Stimme, der Schatten der Töne und die Stille sind einem Musi­ker, wie ich es bin, so vertraut, dass diese beiden Verse für mich gleich­sam nur auf eine musikalische Inter­pretation zu warten schienen. So viele Jahrhunderte hindurch sollten sie also nichts an unserer Trauer ver­ändert haben?

4 - Der Tod (das Ende) der Menschheit
nach dem Gilgamesch-Epos

Im Gilgamesch-Epos erzählt der unsterbliche Utanapisti den Helden das „Geheimnis der Götter": die Sintflut. Wie Noah in der Bibel wird auch er vor der Sintflut gerettet, von der gesagt wird, dass sogar die Götter selbst davor in Angst und Schrecken gerieten. Die Große Göttermutter schreit wie eine Gebärende, und die Musik tritt an die Stelle des Lesens vom Unheil, während die Singstimme in den Intervallen zwischen dem Getöse auftaucht. Stürme, strömender Regen, Orkan, Sintflut, Gewitter, Blut­bad - diese Elemente geben Anlass zu einer großen Polyphonie, wo jede Schicht einer von ihrem eigenen Tempo bestimmten Bahn folgt.

Beinahe wie ein fünfter Gesang - wieder „diatonisch" - ist das sanfte Wie­genlied, das den Zyklus beschließt, nicht zum Einschlafen sondern zum Erwachen bestimmt. Es ist eine Musik der Morgendämmerung einer Menschheit, die endlich vom Alptraum, vom Schreckgespenst befreit ist. Ich wage zu hoffen, dass  dieses Wiegenlied nicht zu jenen gehören wird, die wir morgen für die ersten menschlichen Klone singen werden, wenn es gilt, ihnen die unfassbare genetische und psychologische Gewalttätigkeit zu enthüllen, die ihnen von einer Menschheit zugefügt wurde, die verzweifelt auf der Suche nach Schöpfer­tabus ist.

Gérard Grisey
Interpret/innen

Sopran: Catherine Dubosc
Klangforum Wien
Dirigent: Sylvain Cambreling

Kooperationen

In Auftrag gegeben vom Ensemble lntercontemporain, Paris und der BBC, für die London Sinfonietta Uraufführung: London, Queen Elisabeth Hall/ 3. Februar 1999

Termine
Konzert
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 1999 | Steenhuisen/Grisey