musikprotokoll 2022
6. – 9. Oktober 2022
„Whodentity“ ist ein Kunstwort, mit dem wir beim musikprotokoll 2022 aktuell drängende Fragen nach Identitäten beleuchten wollen. Wer ist „wir“, welche Identität schreibt wer wem gesellschaftlich zu, und wer ist „man(n)“ in einem bestimmten Kontext? Über Jahrzehnte reicht ein Prozess, der so schleichend wie radikal, in manchen Details so unbemerkt wie zugleich die Grundfesten erschütternd ist, und seit ebendiesen Jahrzehnten auch so beschrieben wird: Die sukzessive Auflösung ehemals als unerschütterlich und unhinterfragbar geltender Zugehörigkeiten, ein Prozess der permanenten Frage nach einer sich verändernden „Whodentity“.
Vieles davon hat offensichtlich mit patriarchalen Strukturen und männlicher Dominanz zu tun. Bleiben wir also vorerst bei diesem offensichtlichsten, diesbezüglichen Thema. Jahrzehntelang, eigentlich jahrhundertelang, war die öffentliche, professionelle Musikausübung in Europa männlich besetzt. Sofort sollte hinzugefügt werden: So scheint es laut der ebenfalls unter männlicher Hegemonie stehenden Musikgeschichtsschreibung gewesen zu sein. Dass eine Musikgeschichte zwischen beispielsweise Spätrenaissance und Frühbarock auch anders geschrieben werden könnte, etwa mit Komponistinnennamen wie Maddalena Casulana Mezari über Vittoria Raffaela Aleotti und Leonora Duarte zu Francesca Caccini, stimmt zwar und ist auch dringend notwendig, ändert aber doch wenig an der männlichen (numerischen und kulturellen) Dominanz, die es gab und gibt.
Aber bleiben wir in der Nähe unseres eigenen Tuns, bei der neuen und zeitgenössischen Musikausübung, beim musikprotokoll, bei zeitgenössischen Ensembles, beim RSO Wien. Auch hier blitzen natürlich sofort die Gegenbeispiele auf. Das RSO Wien hat seit 1976 mit Annemarie Kläring-Ortner und danach Maighread McCrann – und unter den Orchestern allein auf weiter Flur – weibliche Konzertmeister:innen. Und seit den 1990er Jahren fordert uns die Komponistin Olga Neuwirth mit immer neuen, gewagten, grenzüberschreitenden Projekten und Kompositionen heraus. Einige der wichtigen Werke aus den ersten Jahren ihrer Karriere waren auch Auftragswerke unseres Festivals ORF-musikprotokoll im steirischen herbst. Ganz alternativlos scheint die Frage nach einer weiblichen oder andersgeschlechtlichen „Whodentity“ also auch in einer männlich dominierten Musikwelt nicht zu sein. Aber wenn wir einen Blick in die musikprotokoll-Statistik der frühen Jahre werfen und genau rechnen – „and do the math“ heißt das grandioser Weise auf Englisch –, dann stellen wir erschrocken fest, dass in den 1960er und 1970er Jahren der prozentuelle Anteil der von Komponistinnen aufgeführten Werke gerade einmal 0,6% aller Aufführungen betrug. Von Dirigentinnen ganz zu schweigen. Das hat bei uns dann doch zu einer gewissen Ernüchterung geführt, auch wenn in der Zwischenzeit, also während der vergangenen circa 25 Jahre, der Anteil der Autorinnen beim musikprotokoll auf 30% bis 40% gestiegen war. Nicht zuletzt die immer durchlässiger werdende Grenze zwischen Performativem und Komponiertem hat den Frauenanteil zuletzt noch weiter erhöht.
Aber für das musikprotokoll 2022 und seine Konzerte mit dem Ensemble Modern, dem Vokalensemble Cantando Admont und mit dem RSO Wien, inzwischen auch von einer Chefdirigentin geleitet, wollten wir nach fast 55 Jahren gerade auch im strukturell konservativsten und immer noch sehr männlich dominierten Konzert-Genre das Steuer gänzlich herumreißen und ausschließlich Musik von Komponistinnen ur- und erstaufführen. Am Dirigentinnenpult des RSO Wien steht 2022 mit Yalda Zamani eine Künstlerin, die auch jenseits des Dirigierens als Schöpferin experimenteller Performances hervorsticht und als solche mit ihrem „Goat Song Project“ beim musikprotokoll 2022 auch auftritt. Uraufzuführende Werke für Orchester und Solist:innen stammen in diesem Konzert von der britisch-iranischen Künstlerin Shiva Feshareki, die als Turntable-Solistin auch selbst auf die Bühne kommt, und von der kroatisch-österreichischen Komponistin und Veranstalterin Margareta Ferek-Petrić, deren Klavierkonzert von der österreichisch-rumänischen Pianistin Maria Radutu gespielt wird. Mit der anderen Hälfte dieses Konzerts knüpfen wir an musikprotokoll-Traditionen an. Von Olga Neuwirth kommt als Auftragswerk ein Doppelkonzert für Violoncello und Schlagwerk zur Erstaufführung. Den Cellopart übernimmt Tanja Tetzlaff. Und weil im Wort „Whodentity“ eben die Identität hinterfragt wird, steht noch ein Werk mit dem Titel „Identifications“ auf dem Programm, 1970 komponiert und 1996 überarbeitet von jener Komponistin, die die eingangs erwähnten 0,6 Prozent der 1970er Jahre nahezu im Alleingang bewältigte, von der 1928 in Zagreb geborenen und 2012 in Wien verstorbenen Komponistin Luna Alcalay.
Im Konzert mit dem Ensemble Modern folgen Ur- und Erstaufführungen von der kroatisch-österreichischen Komponistin Mirela Ivičević, der serbisch-deutschen Komponistin Milica Djordjević, der Slowenin Petra Strahovnik, Justė Janulytė aus Litauen und von der 1943 in Havanna, Kuba, geborenen, während der letzten Jahrzehnte in den USA lebenden Tania León. Das Vokalensemble Cantando Admont singt Ur- und Erstaufführungen der österreichischen Komponistin und Pianistin Elisabeth Harnik, der deutschen Komponistin Charlotte Seither, der rumänisch-deutschen Komponistin Adriana Hölszky sowie der südkoreanisch-deutschen Komponistin Younghi Pagh-Paan.
Aber interessante Aspekte verbergen sich auch jenseits der Binarität von weiblich-männlich in widersprüchlichen, subtilen, bunten, radikaleren Konfigurationen. Nicht einfach eine männliche Vormachtstellung, sondern die Zugehörigkeitsmarker von „human beings“ als solche und „Artificial Intelligence“ stehen beispielsweise zur Disposition. Spätestens seit den 1980er Jahren liefern Ideen- und Worteschmiede wie William Gibson mit „Neuromancer“ und „Cyberspace“ oder Neal Stephenson mit „Avatar“ und „Metaversum“ auch das Vokabular dazu. Zuerst „multimedial“, danach „interaktiv“ und später „immersiv“ genannte musikprotokoll-Projekte von „a sophisticated soiree” aus 2001 und „alien city”, in Graz realisiert 2003, bis zu Alexander Schuberts für 2022 geplantes Projekt mit dem KI-Programm „Av3ry“ als nicht-binärer Persona zeugen in der musikprotokoll-Geschichte künstlerisch davon. Immerhin ist „Av3ry“ eine virtuelle Persona, die Musik komponiert, mit Menschen kommuniziert und aus Interaktionen lernen kann. Aus diesem Projekt stammt auch das Plakatsujet des musikprotokoll 2022. Und die erlebbare, partizipative Installation „Unity Switch“ ermöglicht es, durch die Augen verschiedener Personen zu sehen und auf einer virtuellen Ebene zu interagieren.
Aber halt. Das Unvorhersehbare der paradoxen Suche nach dem Konstituierenden von Identität – und diese Formulierung führt zumindest in die Nähe dessen, was wir mit dem Kunstwort „Whodentity“ andeuten wollen – das Schillernde dieser Suche nach den Zugehörigkeitsmarkern, die uns ausmachen muss nicht notwendigerweise in Science-Fiction-Welten münden. Ganz im Sinne der Suche nach diesbezüglichen, künstlerischen Manifestationen von „Whodentity“ in der musikprotokoll-Geschichte könnten wir naheliegenderweise auch an die vorhin schon kurz erwähnte Olga Neuwirth, an ihre Musik und ihre Kompositionen inklusive derer Titel denken.
Während also das traditionelle genderbinäre Schema (weiblich-männlich), inzwischen bereits auf Gesundheitskassafragebögen veraltet, um ein „divers“ ergänzt wurde, im Zentralen Personenstandsregister zwischen "männlich", "weiblich", "divers", "inter", "offen" und "keinem Eintrag" gewählt werden kann und die Buntheit der sich hinter den aktuellen LGBTIQA: Abkürzungen verbergenden genderfluiden und sexuellen Vielfaltsmöglichkeiten von vielen Zeitgenoss:innen vorerst nur erahnt werden kann, geraten gleichzeitig und paradoxerweise die Buntheit, Diversität, Inhomogenität und manchmal auch Inkorrektheit früherer, historischer Genres und Subgenres, Menschen und Tierwesen, Göttinnen und Göttern, Fabelwesen und Märchenfiguren, in Erklärungsnotstand ob ihrer Daseinsberechtigung. Zum Widersprüchlichen der Debatten darüber, was uns alle (letztlich) ausmacht zählt ja gerade das Spannungsverhältnis von Befreiung, Vielfalt und Buntheit einerseits und oftmals zugleich auch ein starker Wind, der uns entgegenschlägt und erahnen lässt, in welchen Krisenmodus jene geraten, denen daran gelegen ist, alte Ordnungen aufrecht zu erhalten. Vielfalt kann aber unter bestimmten Umständen geopfert werden, insbesondere wenn – mehr oder weniger historische – Fantasy-Dimensionen ins Spiel kommen: Einhorn und Grönlandhai, Hexen und Hexer, Teufel:innen, Gangster, Drachen und Lindwürmer, Seraphine und Meereswesen, Trolle, Ries:innen und Monster. Von wegen Monster: Das Wesen "Vampyrotheutis Infernalis" als versuchsweise nicht-anthropozentrisch gedachte, idealerweise aus gegen-anthropologischer Sicht heraus entworfene Verkörperung einer „anderen“ Welt- und anderen Wesensordnung gerät da ins Blickfeld und damit auch Ausgaben des musikprotokoll Anfang und Mitte der 1990er Jahre, in denen Werke von Olga Neuwirth mit den von den Vampyrotheutis-Proponenten Vilém Flusser und Louis Bec inspirierten Stücktiteln “Vampyrotheone” und “Akroate Hadal” zur Uraufführung kamen. Olga Neuwirths hybride, fluide, nervöse, agile, keine Ruhepole und Gewissheiten kennende Musik dieser Jahre lässt sich auch als frühe Emanation einer Frage nach „Whodentity“ hören und verstehen. Aber selbstverständlich fungiert die Erwähnung von Olga Neuwirths Kunst hier in diesem kurzen Text stellvertretend für viele dutzende, hunderte andere, über Jahrzehnte hinweg unternommene, identitätshinterfragende Kunstanstrengungen von Künstler:innen in den Programmen der Festivalausgaben des musikprotokoll.
Das musikprotokoll ist seit mehr als 50 Jahren ein Kunstfestival des zeitgenössischen Klingens, des sensiblen Nachklingens und des utopischen Voraushörens. Es ist kein philosophisch-soziologisches Doktorandum, auch wenn manch Programmbucheinträge der letzten Jahrzehnte letzteren Eindruck erwecken mögen. Und weil wir die Frage nach einer „Whodentity“ weniger im Soziologisch-Philosophischen als im Klingenden und Kunstkonzeptionellen verorten wollen, kaprizieren wir uns jetzt nicht auf „dezentrierte Identitäten vor dem Hintergrund postmoderner Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen“1, wie es vor gut zwei Jahrzehnten geheißen haben könnte, und problematisieren auch nicht ein „Festhalten an den Traditionen der vermeintlich alten Heimat oder den Rückzug ins Ghetto versus einer (Über-)Anpassung an die Normen der neuen Umgebung“2, wie es bis heute politisch heißen könnte.
Wir denken das Alles mit, aber wir machen uns beim musikprotokoll auf die Suche nach zeitgenössischen, klanglichen, konzeptionellen Erkundungen rund um eine wie auch immer auslotbare Frage nach einer zeitgemäßen „Whodentity“, was immer das sein kann. Ahnend beziehungsweise wissend, dass wir mit Sicherheit im Plural, bei „Whodentities“, landen werden.
Während dieser Text geschrieben wird, sind viele Künstler:innen des musikprotokoll 2022 längst am Arbeiten und Fertigstellen ihrer Projekte und Werke. Wie sehr sich das mit dem Kunstwort „Whodentity“ angedeutete Thema in den Arbeiten niederschlagen wird, ist nicht zur Gänze abschätzbar. Einige entscheidende Hinweise ließen und lassen sich aber dennoch schon erkennen.
Dass die für das musikprotokoll 2022 geplante Arbeit „Unity Switch“ von Alexander Schubert ganz im Zeichen von „Whodentity“ gelesen werden kann, wurde schon erwähnt. Auch das Projekt „Goat Song Project“ von Yalda Zamani, zugleich die Dirigentin des RSO-Wien Konzerts dieses Jahres, entfaltet in einer konzentrierten, kammermusikalischen Version interaktiver Semiimprovisation Aspekte des Lebens im künstlerischen Zwischenreich der „Whodentities“.
Im Zentrum der Kammeroper „Avatara“ von Christof Ressi, mit der in Zusammenarbeit mit der KUG Graz das musikprotokoll enden wird, stehen „zwei unbestimmte Figuren, die, gleichsam lost in space, auf der Suche nach einer fluiden Identität zwischen analoger Realität und digitaler Virtualität, zwischen authentischem und simuliertem Leben sind.“ Um einen größeren, auch historischen Zusammenklang anzudeuten, heißt es im Text zu dieser Oper noch: „Der Wunsch, den eigenen Körper zu verlassen und eine andere physische Form anzunehmen, ist ein Archetypus, der sich durch alle Epochen und Kulturen zieht. Er spiegelt sich in den zahlreichen Legenden von Göttern, Geistern und anderen Wesen, die beliebig ihre Gestalt ändern können, und reicht von der griechischen Mythologie bis zur zeitgenössischen Fantasy-Literatur.“
Der in Zagreb geborene, in Deutschland aufgewachsene und in Graz arbeitende Marco Ciciliani merkt zu seinem Projekt für das musikprotokoll 2022 an und das sei hier im originalen Englisch wiedergegeben, weil diese gewisse lapidare Kürze auf Deutsch nicht wiederzugeben ist: „WHY FRETS? applies a post-colonialist and techno-feminist free-fantasy reading of the history of the electric guitar, and that has been charged with symbolisms of masculinity, manhood and sexuality like almost no other Western instrument.“
Und vielleicht verbirgt sich tatsächlich ein vorerst so unscheinbar wirkendes und dennoch richtig bemerkenswertes Maß an realer Umsetzung der Fragen nach „Whodentity“ in der anfangs erwähnten, schlichten Tatsache, dass drei der aktuell programmierten Konzerte des musikprotokoll 2022, also jene „traditionellen“ Konzerte in ihrer klassischen, mit Bühne und Publikum konzipierten Form, ausschließlich Musik von Komponistinnen zu Gehör bringen.
Ukrainisches post scriptum: Die Planung dieser Festivalausgabe war natürlich längst abgeschlossen, als der wahnsinnige Krieg gegen die Ukraine von Putin in Gang gesetzt wurde. Zweimal war in den letzten Jahren ein junges, ukrainisches, und vor allen Dingen ganz phantastisches Streichquartett beim musikprotokoll zu Gast gewesen, das Danapris String Quartet, und manche der Musiker:innen sind dabei fast zu so etwas wie Freund:innen geworden. Wir erkundigten uns bei den beiden Geigern und erfuhren, dass sie sich in Kiew in Sicherheit zu bringen versuchen und das Land vorerst nicht verlassen können und wollen. Dann bemerkten wir, dass im März auf allen digitalen Musikplattformen eine neue, ukrainische CD erschien: Musik ukrainischer, zeitgenössischer Komponist:innen, gespielt von Kateryna Suprun, der Bratschistin des Danapris String Quartet. Sie hatte die Platte in den Corona-Zeiten vor Kriegsbeginn aufgenommen, und nun wurde sie veröffentlicht. Kateryna Suprun war inzwischen – wie Valentin Silvestrov, dessen Musik das Danapris String Quartet mit Kateryna Suprun beim musikprotokoll auch gespielt hatte – nach Berlin geflohen, mit Mutter und kleiner Tochter. Wir haben sie eingeladen, beim musikprotokoll 2022 ukrainische Kostbarkeiten aus dem neuen Album für Viola Solo vorzustellen.
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1,2 Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher (2004). Identität. Transcript Verlag, Bielefeld S.1-9.