Zur 50. Ausgabe des ORF musikprotokoll im steirischern herbst bittet das RSO Wien zum Tanz im Grazer Congress.
... Die Reflexion bittet das Vergnügen zum Tanz, das Gedachte die erotische Dünnhäutigkeit, der Strukturalismus walzt mit der Wiederholung, die draufgängerische Avantgarde entdeckt die Subtilität der körperlichen Tanzschritte, der Dekonstruktivismus umgarnt das Vorgegebene ...
Eine Polka von Gerhard Winkler, ein Walzer von Johanna Doderer, uraufzuführende orchestrale Tänze von Peter Herbert, Gabriele Proy, Johannes Maria Staud, Judit Varga, Jorge Sanchez-Chiong, Bernd Richard Deutsch und Johannes Kalitzke, eine Bossa Nova von Gerald Resch und Arturo Fuentes legt noch einen Mambo nach: Aus den verschiedensten Szenen zeitgenössischer Musiken steuern Komponistinnen und Komponisten Tänze zu einem der ungewöhnlichsten Projekte neuer Musik in Österreich seit Jahren bei.
Das Projekt mit dem semi-ironischen und doppelt-ernstgemeinten Titel „Tanzmusik für Fortgeschrittene“ feiert 2017 die 50. Ausgabe des Festivals musikprotokoll. Eine ungewöhnliche Tanzpaarung, wie andere ungewöhnliche Tanzpaare auch: Das musikprotokoll bittet sein Publikum zum Tanz, die Reflexion bittet das Vergnügen zum Tanz, das Gedachte die erotische Dünnhäutigkeit, der Strukturalismus walzt mit der Wiederholung, die draufgängerische Avantgarde entdeckt die Subtilität der Körperlichkeit von Tanzschritten, der Dekonstruktivismus umgarnt das Vorgegebene. Letzteres Paradoxon könnte zum Denken ebenso Anlass geben wie zum Tanzen und ebendies wollen alle an diesem Abend Beteiligten: Tanzen, Tanzen, Tanzen. Damit wir uns alle von der ersten Minute an beschwingt fühlen, trinken wir ein Glas Sekt und der Grazer Congress räumt die Sitzreihen aus dem Parkett, um eine Tanzfläche bereitzustellen.
Wer Walzer tanzen kann, weiß, dass es um die „Mitte“ geht, darum, dass das Beieinandersein exakt in der „Mitte“ des Körpers das Einundalles ist. Oben lehnt man sich elegant auseinander, unten sind die Beine im elegant erotischen Clinch. Aber die Mitte ist das Zentrum der Welt, das Zentrum jedes Walzers. Ohne zu wissen, ob Gilles Deleuze Walzer tanzen konnte: „Ein Werden ist immer in der Mitte, man kann es nur in der Mitte erfassen. Ein Werden ist weder eins noch zwei, noch die Beziehung zwischen beiden, sondern es ist dazwischen, die Grenze oder Fluchtlinie, die Falllinie, die vertikal zu beiden verläuft.“
Natürlich ist das, worum es geht, weder das Eine, noch das Andere, sondern die vertikale Fluchtlinie, das Dazwischen. Kollege Jean-François Lyotard hat da noch ein Schäuflein nachzulegen, ein subtil Nachdenkliches: „Es gibt so etwas wie ein Verschachteltsein von Denken und Leiden. Wörter, Sätze im Vollzug der Schrift, latente Töne und Klänge am Horizont des Malens und des Musizierens, habt ihr gesagt, bieten sich unserem Zugriff an und entziehen sich ihm zugleich“.