Indicio
Indicio Streichquartett Nr.2

Im Film Proof (Jocelyn Moorhouse, 1991) versucht ein blinder Fotograf, durch seine Aufnahmen zu beweisen, dass sein Erleben der Welt der Realität entspricht, auch wenn er zur Bestätigung immer die Augen anderer braucht. Seine Bilder sind vor allem Zeugnis, erzählen vielleicht eine Geschichte und werden nur beiläufig als ästhetisches Objekt wahrgenommen. Mein Streichquartett möchte diesen Gedanken auf den Bereich der Klänge übertragen.

Das Werk hat vier Sätze, die ohne Unterbrechung zu spielen sind. Die ersten beiden basieren auf Berichten, die durch die Presse liefen, als ich mit der Komposition begann: último rinoceronte blanco verweist auf das letzte männliche Weiße Nashorn, das in Kenia von bewaffneten Aufsehern bewacht wird (April 2015); superficie de Plutón wurde inspiriert von den im Juli 2015 von der NASA veröffentlichten ersten scharfen Bildern von der Oberfläche des Pluto. Ein Beinaheverschwinden und neue Entdeckungen, Kopf und Zahl der Schöpfung.

Der vierte Satz ist eine Hommage an Robert Rauschenbergs letzte Werkgruppe Gluts (1986–95), die Skulpturen aus Schrott umfasst. Ich versuchte, eine entsprechende Technik anzuwenden und arbeitete mit Musik, die ich normalerweise ablehne, tatsächlich aber den Großteil meiner akustischen Umgebung ausmacht: Klingeltöne, Kaufhausmusik, Warteschleifen, Mainstream-Pop und Dance Music.

Der dritte Satz, jardín nunca visto, zieht sich im Gegensatz zu den anderen von der Welt zurück, sodass sich im Zentrum des Stückes ein durch Introspektion zugänglicher Garten entfaltet. Im Film beschreibt die Mutter des blinden Fotografen jeden Tag den Garten vor dem Haus, der Bub jedoch gerät ins Grübeln: Wenn sie die Wahrheit sagt, dann kennt er den Ausblick in- und auswendig; wenn sie lügt, ist jedes Vertrauen dahin. Wieso sollte sie ihn anlügen? Antwort des Buben: Weil sie es kann.

Wenn ich Musik höre, habe ich den Eindruck, dass mir etwas entgeht, als ob zwei Ohren nicht die ganze Schönheit flüchtiger Klänge einfangen könnten. Ich bräuchte mehr Ohren, dazu ein unbegrenztes, perfektes, fotografisches Gedächtnis. Manchmal, wenn ich aufmerksam bin und die Sprache klar ist, erhasche ich einen Blick auf eine Vollständigkeit, so wie sich das Kind den beschriebenen Garten vorstellt. Eine Vollständigkeit, die sich nicht festhalten lässt und daher größere Autorität als die Wirklichkeit hat, wahrer erscheint. Die Kunst ist ein Mittel, Dimensionen zu erforschen, die uns entgehen – ein nicht-wissenschaftliches Mittel, weil eine Verifizierung nicht möglich ist. Wie das Kind, das seiner Mutter glauben möchte und ihr misstraut, muss man skeptisch wie auch voll blinden Vertrauens in den magischen Zauber eintauchen.

Mikel Urquiza, Übersetzung: Friederike Kulcsar
Interpret/innen

Komposition: Mikel Urquiza (ES)

Quatuor Diotima (FR)

Franck Chevalier

Pierre Morlet

Constance Ronzatti

Yun-Peng Zhao

Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Österreichische Erstaufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2017 | Quatuor Diotima