Der Textdichter von Dic Christi veritas, Philipp der Kanzler, war Philosoph. Ebenso Ramon Llull. Die Musikstücke sind wohl in den 1230er Jahren entstanden, dem Geburtsjahrzehnt von Llull. In den ersten beiden Zeilen des Textes von Dic Christi veritas finden wir die Worte Veritas (Llulls Principia, unter der Überschrift ‘Principia absoluta’) und Caritas (Principia, unter der Überschrift ‘Virtutes’). In der Konduktus-Motette Bulla fulminante finden wir Veritas erneut, aber auch Iustitia (Principia, ebenfalls unter der Überschrift ‘Virtutes’).
Die besonders im späteren Notre-Dame Repertoire zu findende Kompositionstechnik des Stimmtauschs (kurze melodische Motive werden unter Stimmen ähnlichen Umfangs ausgetauscht) ist durchaus mit der Kombinatorik von Llulls Ars Magna zu vergleichen. Der unbekannte Komponist von Dic Christi veritas arbeitet praktisch mit drei konzentrischen Kreisen von jeweils drei Feldern; Llull hat ja jedem seiner Kreise neun Felder zugewiesen.
Auch dreht sich gewissermaßen die Dichtung Philipps des Kanzlers um sich selbst: die sehr kurzen Zeilen des Textes, das Reimschema und die stark ausgeprägte Verwendung der Assonanz erzeugen diesen Eindruck.
Dic Christi veritas
Sag, Christi Wahrheit,
sag, kostbare Seltenheit,
sag, seltene Liebe,
wo wohnst du jetzt?
Im Tal der Visionen,
oder auf Pharaos Thron?
Oder in der Höhe mit Nero?
Oder in der Grotte mit Timon?
Liegst du im Binsenkorb
mit dem weinenden Moses?
Oder im Hause des Romulus
mit seiner blitzenden Bulle?
Quelle: Florenz, Bibl. Laur. Pluteus 29,1 fol. 203-204 | Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek 1099 (olim 1206) fol. 33-34v