Bulla fulminante
(1)
Mit einer blitzenden Bulle, die vom Richter her donnert,
wird der Angeklagte herbeigerufen zu einem schweren Urteil.
Die Wahrheit wird unterdrückt, zerstückelt und verkauft
als Hure wird Justitia.
Man muss hin und herlaufen zur Kurie, ehe
mehr erfolgt, als dass man
eines Viertels des Vermögens beraubt wird.
(2)
Die Pförtner des Papstes sind tauber als Zerberus.
In vergeblicher Hoffnung klagst du, sogar wenn du
Orpheus wärest – den erhörte Pluto, der Gott der Unterwelt – flehe daher nicht,
es sei denn, dein Silberhammer klopft an jene Tore,
wo Proteus
sich tausendfach verwandelt.
(3)
Suchst du Pfründen,
empfiehlst du umsonst deinen Lebenslauf; betone nicht deine Sittlichkeit,
da könnte der Richter beleidigt sein!
Auf deine Gelehrsamkeit berufst du dich vergebens; du wirst hier weilen
mehrere Monate lang.
Auf die Dauer wirst du auf Früchte warten, die andere dann ernten,
es sei denn, du kannst mit gleichwertiger Bestechung mitstreiten.
(4)
Solange Jupiter Danaë anfleht,
strengt er sich vergeblich an;
doch kann er sie entjungfern,
sobald er sich in Gold verwandelt.
Nichts ist mächtiger als Gold,
nichts gefälliger; nicht einmal Tullius*
kann ertragreicher plädieren.
Doch verzehrt es am schärfsten die,
die es am meisten ehrt.
Nichts ist gerechter, als dass es
Crassus** flüssig verschlingt.
* Marcus Tullius Cicero: Politiker, Anwalt, Redner
** Marcus Licinius Crassus: Politiker, Heeresführer, Vermögender
Quelle: Florenz, Bibl. Laur. Pluteus 29,1 fol. 204 (nur Text) München, Bayerische Staatsbibliothek CLM 4660 fol. 5454v