Anamorph IX
Anamorph IX (Frostblues zur Winterreise) für Gitarrenquartett und Sopran (2016)

Das Stück schaut vom Ende her zurück in die Winterreise Schubert­ Müllers. Der letzte Vers des gesamten Zyklus, – „Willst zu meinen Liedern Deine Leier dreh’n ?“ – suggeriert für mich einen Anfang, so, als könnte nun nochmals etwas beginnen, als würde jetzt überhaupt erst die Musik zu sich kommen. Diesen Ansatz nehme ich wörtlich und drehe den Blickwinkel zurück in den Zyklus hinein. Dazu wird die Musik des „Leiermann“ anamorph, d.h. nichtlinear, verzerrt, projiziert und umhüllt, mal mehr, mal weniger deutlich erkennbar, den ganzen Frostblues.

Mit fortschreitendem Zurückschreiten im Schubert­-Müllerschen Kos­mos macht sich jedoch ein zunehmender Gedächtnisverlust breit, Textlücken entstehen, die schließlich gegen Mitte der Gedichtfolge zum Zusammenbruch der Erinnerung führen. In die Lücken breiten sich Assoziationen, Allusionen an andere Musik aus, an ein Genre, das auch immer wieder mit der Darstellung schmerzlicher persön­licher Erfahrungen verbunden ist: den Blues. Anklänge und Refe­renzen an Billie Holiday, Aretha Franklin, Howlin’ Wolf und andere in Text und Musik, Bluesfarben in den Gitarren, sogar Ausflüge in den Bereich Rock werden angedeutet. Kälte und Einsamkeit ist, wie bei Schubert, auch hier Thema. Ganz am Ende des Stückes taucht plötzlich aus der verlorenen Erinnerung der Anfang, das erste Wort, der erste Ton der Schubertschen Winterreise auf: „Fremd“.

Text vom Komponisten
(nach Wilhelm Müllers Winterreise, 1824, in der Schubertschen Adaption, und Blues/Rock­Fragmenten).

Die Nummern und Titel in eckiger Klammer bezeichnen die Überschriften und Nummern der korrespondierenden Schubert­-Müllerschen Lieder/Texte, die kursiv gesetzten Textelemente sind eingefügte, englischsprachige Fragmente aus Blues­- und Rockgesängen.

[24. Der Leiermann] Drüben hinterm Dorfe Steht ein Leiermann Und mit starren Fingern Dreht er was er kann. Barfuß auf dem Eise Wankt er hin und her
Organgrinder!
Und sein kleiner Teller Bleibt ihm immer leer. Keiner mag ihn hören, Keiner sieht ihn an, Und die Hunde knurren
Good morning heartache, You old, gloomy sight.
Thought we said goodbye last night. But here you are with the dawn.

Um den alten Mann.
It seems I met you
when my love went away.

Und er läßt es gehen, Alles wie es will,
Stop haunting me now!
Wunderlicher Alter! Soll ich mit dir geh’n? Willst zu meinen Liedern Deine Leier dreh’n?

[23. Die Nebensonnen]
Drei Sonnen sah ich am Himmel steh’n, Hab’ lang und fest sie angeseh’n;
Und sie auch standen da so stier, Als wollten sie nicht weg von mir. Ach, meine Sonnen seid ihr nicht!
….
Ja, neulich hatt’ ich auch wohl drei; Nun sind hinab die besten zwei. Ging nur die dritt’ erst hinterdrein! Im Dunkel wird mir wohler sein.

[17. Im Dorfe]
Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten; Es schlafen die Menschen in ihren Betten, Träumen sich manches, was sie nicht haben,
...
Je nun, sie haben ihr Teil genossen
Oh no, oh no, the world can’t do me no harm!
Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde,
Laßt mich nicht ruh’n in der Schlummerstunde! Ich bin zu Ende mit allen Träumen. Was will ich unter den Schläfern säumen?

[21. Das Wirtshaus]
Gelido in ogni vena Scorrer mi sento …“ (dal „Farnace“ di Vivaldi)
Auf einen Totenacker
Hat mich mein Weg gebracht; Allhier will ich einkehren, Ins kühle Wirtshaus ein.
Deep in my heart it´s cold as ice.
O unbarmherz’ge Schenke, Doch weisest du mich ab?
Some other  spring...

 

[22. Mut / 19. Täuschung / 18. Der stürmische Morgen] Fliegt der Schnee mir ins Gesicht, Schüttl’ ich ihn herunter. Ich folg’ ihm nach die Kreuz und Quer;
…zerrissen…
Die Wolkenfetzen flattern Umher im matten Streit. Will kein Gott auf Erden sein, Sind wir selber Götter!
...rote Feuerflammen Zieh’n…
How many more years ...?
ein helles, warmes …
Es ist nichts als der Winter, Der Winter kalt und wild! Nur Täuschung ist für mich Gewinn!
I will drive past your house. And if the lights are all down...
Mein Herz sieht an dem Himmel Gemalt sein eig’nes Bild -

 

[20. Der Wegweiser]
Was vermeid’ ich denn die Wege, Wo die … Weiser stehen auf den Straßen, Weisen …
Chain, Chain, Chain...
Einen Weiser seh’ ich stehen
Chain, Chain, Chain... 

 

[16. Letzte Hoffnung]
Schaue nach dem einen Blatte,

Fall’ ich selber mit zu Boden,
Chain, Chain, Chain...

[15. Die Krähe]
Krähe, wunderliches Tier, Willst mich nicht verlassen?

 

[14. Der greise Kopf]
...und meiner ward es nicht Auf dieser …

[13. Die Post]
(nur  musikalisches Zitat)
Chain of fools!
Chain, Chain, Chain...

 

[1. Gute Nacht] Fremd

Gerhard E. Winkler
Interpret/innen

Aleph Gitarrenquartett
Wolfgang Sehringer, Gitarre
Tillmann Reinbeck, Gitarre
Andrés Hernandez, Gitarre
Christian Wernicke, Gitarre
Daisy Press, Sopran

Kooperationen

Das Werk von Gerhard E. Winkler ist musikprotokoll­ Emil-­Breisach-­Kompositionsauftrag  2016

Termine
Location
Helmut List Halle
Konzert
Uraufführung
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2016 | Aleph Gitarrenquartett