Wie alles entstanden ist, ist mittlerweile schwer zu sagen, und wie es werden wird, noch schwerer: Nornenfragen.
Der Auftrag des steirischen herbstes war: Mach was mit Leuten aus der Region, aus einer Region! ... und auf einmal war da die Gegend um Stainz mit ihrer hohen Chordichte im Gespräch. Ob ich überhaupt etwas mit Klang oder gar Musik machen wollte, wusste ich zuerst noch gar nicht.
Wir sehen uns das an, diese Superidylle (... keine Wunden, in die die Kunst leicht den Finger legen könnte. Nichts schreit, alles harmoniert). Es ist der heißeste Tag im Sommer 13, ich trinke viel zu viel Heilwasser am Erzherzog-Johann-Brunnen und stinke dann noch zwei Wochen lang nach Schwefel wie der Leibhaftige.
Gleich ein Selbstversuch für die Idee: Chöre singen, von ihren Heimatorten ausgehend, an verschiedenen Wasserstellen „Wasserrepertoire“ von Tränen und Brunnen und bewegen sich auf die Stainzer Kirche zu, wo alle dann zusammen singen/klingen. Getragen und zusammengehalten werden diese Chorzüge von der „Flaschenorgel“, einem Metainstrument, bei dem jeder Sänger eine Flasche anbläst, in die immer mehr Wasser eingefüllt wird, bis die Töne ganz hoch sind. Ganz am Schluss wird zwischen den Tönen immer wieder etwas Wasser abgetrunken, sodass die Orgel
wieder auf den Grundton zurücksinkt: der Wasserfall1.
Franz Herzog kommt ins Spiel. Der Titel Bundeschorleiter und eine Intendantin, die die Probe später nicht nur besucht, sondern gleich auch noch mitsingt(!), erweisen sich als gewichtiges Pfand bei der Kontaktaufnahme zwischen Chören und Komponisten. Herzog muss bei einem Chorleiter/innen-Treffen schon so flammend für das noch unbekannte und vage Projekt gesprochen haben, dass zu einem Vorstellungstreffen neun Chorleiter/innen und Obmänner/-frauen kommen.
Ich stelle meine Arbeiten vor, erzähle in etwa, was wir2 vorhaben, und: Es sagen sechs Chöre zu! Chorleiter sagen zu, die im Video gesehen haben, wie Menschen mit Gießkannen auf dem Kopf vier Tage lang den Sunset Boulevard entlangmarschieren, wie ein Cello als Boot den Oslofjord durchpflügt oder als Heiliger Sebastian von einem Bogenschützen beschossen wird; Klaviere, die sich gegenseitig zerstören, und Violen, die mit Hirschgeweihen gestrichen werden, während das Publikum zu Unterwasser-Tristanklängen zwischen Eisblöcken und nebelverströmenden Kajaks schwimmt. O-Ton: „solang’ es nur nicht wie der Nitsch ist!“ Dem Prinzendorfer Orgienfürsten sei für diesen gigantischen Schattenwurf gedankt, in dem (Volkes Stimme – Gottes Stimme) doch viel möglich ist, zwischen dem sogenannten „Normalen“ und dem vermuteten „Aller-Ärgsten“.
Dann kurve und gehe ich drei Tage durch die Stainzer Gegend, verliere mich auf der Suche nach Auftrittsorten im Overkill der Idyllen.
Die Proben beginnen. Jeder Chor ein Organismus – das Paar Chorleiter/in, Obmann/-frau spiegelt den Charakter jedes Chors in geradezu gespenstischer Weise voraus oder wider und wie die Programme des steirischen herbstes (z. B.: 60 % dieses und 40 % jenes) gestalten sich die Proben: 20 % Probe, 80 % Wirtshaus – oder auch umgekehrt.
Ich genieße die Dinge, die zwischen meiner Partitur und den Gewohnheiten, die schon da sind, entstehen, komprimiere aber Notation und Anforderungen immer wieder auf der Suche nach einer Art Suppenwürfel des Chorgesangs. O-Ton, als ich einmal vehement korrigiere: „Jojo, di Doudln g’hearn bridscht.“ Meine Anspannung vor jeder Probe ist groß. Die Erschöpfung am Morgen danach ist nicht nur den Verlängerungen der Proben im Wirtshaus oder Probenlokal zuzuschreiben. Es gilt jedes Mal, den Zugang zu so einem Organismus zu finden, der, wenn er seine kollektive Stimme (in Dur) erhebt, mächtig ist wie ein Neutronensturm.
Die möglichen Wasserorte besuchen wir nun mit einheimischen Chormitgliedern. Viele von meinen gesammelten Ideen und Orten werden obsolet, da die versteckten Bächlein, Weiher, Privatpools und Schulduschen den Stolz und auch Humor der einzelnen Chöre viel besser wiedergeben als die Fundorte des Touristen, der ich als Spotscout war. Auch das wasserspeiende Delfintrio in einem Gewerbepark hätte ich alleine nie entdeckt, auf und in einen Hochspeicher wäre ich nie gekommen, wenn nicht ein Doppelfunktionär (Chor + Wassergenossenschaft) den Schlüssel gehabt hätte. Nie hätte ich in der prallen Nachmittagssonne an einer in die Begehung integrierten Weinverkostung teilgenommen!
Ein Glissando, das sich über zwei Minuten ganz langsam nach unten bewegt, in einem großen weststeirischen Wirtshaussaal, Stapel von Tischtüchern auf den Tischen. Ein Chor, der im Turnsaal im Kreis geht, wobei alle Sänger/innen bei jedem 8ten Schritt den nächsten Ton des Erzherzog-Johann-Jodlers singen – und, ja, man beginnt es wirklich zu hören. Und die orgelnden Flaschen überall und immer, die entrückten Gesichter dabei und bei den Cut-ups aus dem Repertoire, die aus den Flaschenklängen herausplatzende Lust am Singen mitsammen: „Åba schau, schau, wia’s regna tuat!“
Es gibt noch mehr Erschütterungen: Bei einer Probe finde ich die mit Filzstift auf viele A3-Blätter abgezeichnete und damit für alle vergrößerte und sichtbare Partitur vor. Mehrere Chöre haben das Wasser zum Thema ihres eigenen Konzerts gemacht und ein Chorleiter fragt, ob ich nicht auch einmal ein kurzes Stück für eines ihrer Chorkonzerte schreiben könne. Das ist der Kyotopreis der Weststeyermark – ohne Yen zwar aber umwerfend.
Überhaupt: Die Kunst und die Leute! Von den beinahe 200 Leuten, die ich nun gesehen und gehört habe, waren wenige unter 50. Ein paar sind aus den Probe gegangen. O-Ton von Gebliebenen: „Für den war das nichts! Aber das macht ja nichts, nicht jeder ...“ Viele drücken ihre Freude aus, dass ihr Chor und Ort nun dabei wäre beim steirischen herbst. Ein sicherer und ruhiger Stolz. Eine Wärme, ein tiefes Interesse. Es kann scheitern, schiefgehen. Wir hängen uns weit aus dem Fenster: der einsame Composer und die vielmündigen Singstimmen der Orte als Friendly Aliens.
Ihr Chöre aus Deutschlandsberg, St. Stefan, Stainz, Stainztal, Wettmannstätten, Bad Gams und Graz (Vocalforum), ich freue mich auf euch!
1 Durch die Landschaft wandernde Flaschen spielten schon einmal eine Rolle in der Gegend: Mit dem Flascherlzug reiste man an, um den „Höllerhansl“ (1866 – 1935), einen Wunderdoktor, aufzusuchen, zu dem man Urin zur Beschau in Flaschen den Berg nach Rachling hinauftrug.
2 „Der narrische steirische herbst mit den Nackerten im Wald!“, zwitschert es leise
durch den Raum.