„Alle Arten residualer oder künstlicher, imaginärer oder symbolischer Territorialitäten richtet der Kapitalismus ein, wenn er nicht alte restauriert, um auf ihnen, mehr schlecht als recht, die von den abstrakten Quantitäten abgeleiteten Personen neuerlich zu codieren und abzustempeln. Alles passiert wieder Revue: die Staaten, die Vaterländer, die Familien. Das ist es auch, was den Kapitalismus in seiner Ideologie zu diesem ,kunterbunten Gemälde von alldem, was geglaubt worden ist‘ werden ließ. Das Reale ist nicht unmöglich, nur wird es immer künstlicher.“ Gilles Deleuze/Félix Guattari: Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie I, 1977.
„Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst der Religion. Landauf, landab wird von ihr versichert, nach längerer Abwesenheit sei sie unter die Menschen der modernen Welt zurückgekehrt, man tue gut daran, mit ihrer neuen Präsenz ernsthaft zu rechnen. Die Mächte des alten Europa haben sich zu einer pompösen Willkommensfeier verbündet – (…) Wie in den Tagen des ersten Merowingers, der sich aufgrund einer gewonnenen Schlacht zum Kreuz bekannte, sollen auch heutigen Tags die Kinder der banalisierten Aufklärung verbrennen, was sie anbeteten, und anbeten, was sie verbrannten.“ Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, 2009.
„Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!“ –
So wolltest du‘s! Vom Pfade wich dein Wille!
Nun, Wandrer, gilt‘s! Nun blicke kalt und klar!
Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, „Scherz, List und Rache“, 1887.
Der Pfad zur linken Hand als Begriff entstammt der indischen Mythologie und bezeichnet religiöse und weltliche Praktiken, welche dem etablierten, homogenen, dem „rechten“ Glauben gegenüberstehen. In Indien und in anderen Kulturkreisen werden die so genannten „schmutzigen“ Tätigkeiten mit der linken Hand verrichtet; die linke Seite steht für die Überschreitung gesellschaftlicher Tabus. Im Westen wird der Begriff für die Bezeichnung von Denkweisen verwendet, die sich mit dem Widersächlichen, Oppositionellen beschäftigen: Auf dem Pfad zur linken Hand ist meist der Teufel höchstpersönlich der Weggefährte. Die Hörerinnen und Hörer des topografischen Hörspiels Der Pfad zur linken Hand werden auf Denkpfade geführt, die entlang einer Opposition „gegen die Verhältnisse“ in einer Gesellschaft verlaufen, deren sozialer und ökologischer Fortschritt einem monetären Neofeudalismus zu erliegen droht. Mit den globalen Wirtschafts- und Terrorismuskrisen der letzten Jahre hat sich konservatives Denken reinstalliert. Rechtspopulistische Politik und ihre Ausgrenzungsbestrebungen im Wohlstandsgefälle, sei es über nationale/ethnische Identität oder religiöse Ansichten, werden wieder salonfähig. Populistische/konservative und religiöse Heilsversprechungen übertönen rationale Diskurse darüber, wie wir unser Leben führen wollen und wie sich die Gesellschaft weiter entwickeln soll. Heute zeigt sich ein von der Omnipräsenz monetärer Beziehungen geprägtes Gesellschaftsbild, in dem die Dichte der in ihm versammelten Mythen – Mythen als Instrumente der Machtausübung – unüberschaubar, zum eigentlichen Dickicht geworden ist. Der globale Kapitalismus ist zum „kunterbunten Gemälde, von alldem, was geglaubt worden ist“ (Deleuze/Guattari 1977), geworden. Hinter dem ideologischen Vorhang des hygienischen Fabrikraums, von Volkswagen und Sportpalast“, wie es Adorno und Horkheimer in Dialektik der Aufklärung bereits 1944 formulierten, zieht sich erneutes Unheil zusammen, das in der Re- und Neuinstallation von Machtverhältnissen besteht und die Weltgesellschaft deutlicher denn je in Besitzende und Besitzlose aufteilt.
Es stellt sich von neuem die Frage, worin heutzutage aufklärerische Prozesse – damit sind gesellschaftliche Bewusstseinsprozesse gemeint, die Machtverhältnisse offenlegen und überwinden – bestehen müssten. Wenn als Emergenz des künstlerischen Systems des Pfads zur linken Hand ein „luziferischer“ Geist aufscheint, so tritt dieser als aufklärerischer Archetyp, als Gegenspieler und Aufbegehrer auf den Plan, der in seiner Polemik und seinem Scheitern an den Verhältnissen die Hörerinnen und Hörer zu einer Sache ganz konkret auffordern will, nämlich der Grundforderung der Aufklärung schlechthin, wie sie Kant bereits mit seinem „sapere aude! – Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ formuliert hat. Auf dem Pfad zur linken Hand wird sich die grundsätzlich aufklärerische Frage stellen: In welcher Gesellschaft leben wir? Wollen wir so leben? Wie können wir unser Schicksal gemeinsam bestimmen? Im Hörspiel werden diese Fragen von Figuren aufgeworfen, die sich durch ihre oppositionelle Haltung gegenüber ihrem Umfeld auszeichnen: Künstler, politisch Radikale, Intellektuelle, Sektengurus, Trinker, Ausgebeutete, Alternative. Der Pfad zur linken Hand ist ein inhaltlicher Irrgarten. Meinungen sind hier in ihrer Vielzahl vertreten, Sackgassen zuhauf vorhanden. Doch welche Denkpfade führen heraus? Finden die Hörer/innen ihren eigenen Weg aus diesem Labyrinth des Denkens? Dabei spielt die historische Entwicklung von Labyrinthen und der Wandel ihrer Funktion eine wichtige Rolle: „In der Abkehr vom Labyrinth des Spätmittelalters ohne Wegverzweigungen und mit einem Zentrum und der Zuwendung zum Irrgarten mit Abzweigungen, Kreuzungen, Sackgassen und Wegschlaufen spiegelt sich auch ein geistiger Wandel, der die selbstverantwortliche Entscheidung des einzelnen Menschen, der sich nicht mehr bedingungslos durch göttliche oder weltliche Fügung geleitet sieht, wiedergibt,“ so der Wiki-Eintrag.
Das topografische Hörspiel Der Pfad zur linken Hand ist als GPS- und Audioanwendung für Smartphones (iPhone und Android-Geräte) herunterladbar und ist als nomadisches Game angelegt. Die Hörerinnen und Hörer sollen mit ihrem Gerät, einem Kopfhörer und der darauf installierten App in einem ausgesuchten Gebiet herumgehen – „umherirren“ – und auf in der Landschaft angelegte Erzählsegmente treffen. Das Spiel ist in seiner Erzählform nichtlinear. Die Segmente weisen wohl inhaltliche Zusammenhänge untereinander auf, sie sind aber nicht Teil einer kausalen Erzählstruktur, vielmehr entsteht ein Zusammenhang als Emergenz des Systems. Das heisst, dass für jede/n den Pfad Begehende/n durch seine individuelle Wegroute eine eigene Abfolge von Erzählsegmenten entsteht, auf die sie/er sich einen Reim machen muss. Sinn muss zu einem grossen Teil selbst, über die eigene Erfahrung und das eigene Denken hergestellt werden. Der Pfad zur linken Hand ist so eine eigentliche Aporie, ein philosophischer Weg ohne Weg: Eine Ausweg-, eine Weglosigkeit, aus der verschiedene und widersprüchliche Wege hinaus führen können.