In Süditalien und im deutschen Kultur- und Sprachraum war die Prunktreppe mit der Gewölbekonstruktion das bevorzugte Motiv der Architekten des 18. Jahrhunderts, die diese als Spiegelbild fürstlicher Erhabenheit errichteten. Das Meisterwerk von Johann Balthasar Neumann, das Treppenhaus der fürstbischöflichen Residenz Würzburg in Unterfranken, ist zweifelsohne die ambitionierteste derartige Anlage. Es ist von einem riesigen Gewölbe überspannt, dessen zusammenhängendes Deckenfresko ein Auftragswerk an den venezianischen Maler Giovanni Battista Tiepolo aus dem Jahr 1752 ist, das der Verherrlichung des Fürstbischofs Carl Philipp von Greiffenklau dient.
Die Kuppel der Residenz – eine ovalflächige Konstruktion ohne Stützpfeiler– ist eine radikale Neuerung in der Lastenverteilung. Sie steht auch beispielhaft für eine virtuose Behandlung des Innenraums, insbesondere in der Höhe, wo die mannigfachen Ellipsen im Scheitelpunkt zusammengeführt werden. Die Lichtstrahlen, die durch die Seitenfenster einfallen, brechen sich im gestreckten Oval des Gewölbes und verflechten sich in einer kunstvollen und unaufhörlich sich wandelnden Komposition, die durch das Fließen diffusen Lichts gebildet wird.
Als Paradigma einer kosmischen Ordnung, in der sich Architektur, Malerei, Bildhauerei und monumentales Dekor vereinen, verkörpert die Verbindung von Ehrentreppe und Kuppel den Höhepunkt einer alten, zwei Jahrhunderte währenden Tradition in Europa, zu deren bedeutendsten Vorläufern die Bauten von François Mansart in Frankreich und Baldassare Longhena in Venedig zählen. Obwohl es als Beispiel ziviler Architektur gilt, ist das Gebäude Neumanns genau genommen kein Profanbau, sondern reiht sich auf seine Weise noch in die Geschichte der Sakralarchitektur Europas ein, deren letzte Metamorphose es repräsentiert. Denn es sind irdische Götter – Apollon, Herkules, Mars und der Fürstbischof selbst –, die dieses „Theater des Lichts“ beherbergt.
Die Prachttreppe führt den Besucher vom Eingangsbereich der Residenz in den Kaisersaal im ersten Geschoss. Vom dämmrigen Vestibül im Erdgeschoss aus gelangt er über einen großen zentralen Treppenlauf zu einer Art Zwischengeschoss, das ein erstes Ruhepodest bildet. Dann spaltet sie sich und zwei in Gegenrichtung geführte Treppenläufe, die etwas schmaler sind, führen auf eine höhere Ebene. Hier erhebt sich ein lichtdurchfluteter Saal von außergewöhnlichen Dimensionen, der mit einer Balustradengalerie geschmückt ist und in den leuchtenden Farben des Himmels von Tiepolo erstrahlt.
Emporschreitend setzt der Besucher gleichsam die Welt in Bewegung. Er folgt einem narrativen Zermonialweg, dessen Abschnitte jeweils durch eine völlig neue räumliche Situation gekennzeichnet sind. Tiepolo wusste Neumanns Vision getreu umzusetzen, indem er ein Himmelsgewölbe schuf, das den Betrachter, statt ihm die Illusion zu vermitteln, Mittelpunkt der Welt zu sein, in einen undefinierten Raum mit asymmetrischen und bewegten Perspektiven führte, dessen Gesamtsicht ihm bis zuletzt verwehrt bleibt.
Wenngleich Tiepolo die Mythen des Gottesgnadentums in seinem ikonografischen Programm bestätigt, scheinen sie doch unterschwellig durch die expressiven Bedeutungen des Raumes in Abrede gestellt zu werden. Die Komposition fiktiver Himmelswelten in
Olymp und die vier Kontinente setzt eine von halb heidnischen, halb weltlichen Göttern bevölkerte Welt in einer Detailliertheit in Szene, die sich gegenüber dem Gebot der Ordnungsmäßigkeit und der Konvention in Teilaspekten Freiheiten herausnimmt. Das zentrale Oval, das von der Figur des von Horen umgebenen Apollon dominiert wird, zeigt einen Sonnenaufgang im Universum, ein Erglühen des Himmels, der die Welt umspannt und erleuchtet, symbolisiert durch die damals bekannten vier Erdteile, die sich über dem Hauptgesims befinden, auf dem das Muldengewölbe ruht. Allerdings scheint das Licht göttlicher Essenz in der kristallinen Klarheit des Himmelshintergrunds zu erstarren oder sich in den Lichtreflexen von Transparenzeffekten zu zerstreuen. Und auch beunruhigende Wolkenformationen verdunkeln diesen Lichtstrom, durchbrechen diese Epiphanie der Gnade und der Herrlichkeit.
Europa hat einen auserwählten Platz in Tiepolos Kosmos. Auf die Südwand der Galerie gemalt, welche die engste und fensterlos ist, prangt über dem Fries ein Medaillon, in dem die Apotheose des Fürstbischofs von Greiffenklau als Schutzherr der Künste dargestellt ist. An die mythologische Tradition des Goldenen Zeitalters erinnernd, mischen sich Darstellungen von Merkur, Diana, Vulkan, Jupiter und Saturn mit Bildnissen realer Personen, unter denen man die bedeutendsten Künstler erkennt, die am Bau der Residenz mitgewirkt haben: Balthasar Neumann stellvertretend für die Architektur, Antonio Bossi für die Bildhauerei und Stuckatur, Giovanni Battista und Giovanni Domenico Tiepolo sowie Ignaz Roth für die Malerei. Die Musik wird durch eine Musikantengruppe gewürdigt. Statischer als jene der drei „exotischen“ Kontinente, repräsentiert die Allegorie Europas den vom Christentum geprägten Geschichtsabschnitt, dessen Vormachtstellung bestätigt wird. Europa ist vor allem eine Huldigung Neumanns. Tiepolo verherrlicht die Architektur der Residenz, deren Raumaufteilung die Vision einer einzigartigen Welt zum Ausdruck bringt.
Wie Svetlana Alpers und Michael Baxandall feststellten, gibt sich Europa nur einmal zur Gänze dem Blick des Besuchers preis, nämlich dann, wenn dieser, in der Mitte der Treppe angelangt, auf dem ersten Treppenabsatz kurz innehält und sich der Südwand zuwendet. Und wie Atlantis scheint Europa auf dieser Reise zur Entdeckung „exotischer“ Kontinente und zur Eroberung der Himmel dazu verurteilt zu sein, zu verschwinden.
Den Autoren zufolge hinterlässt die Besichtigung der Fresken im Treppenhaus „einen etwas bitteren“1, ja sogar „streng bitteren Nachgeschmack“ 2. Die kühle Distanziertheit, die Kälte, die die Figuren des
Europa-Frieses oder gar des Freskos
Triumph des Apoll trotz ihrer physischen Nähe ausstrahlen, kann tatsächlich Unbehagen verursachen. Obwohl der Prunk
Europas übertrieben anmutet, verweist doch nichts auf einen unaufhaltsamen Niedergang, zumindest wenn man es nach der Konzeption des Künstlers beurteilt, der zufolge die Hegemonie Europas über die anderen Kontinente zum Ausdruck kommen sollte. Gegen den herrschenden Geschmack seiner Zeit, der eine Rückkehr zur Natur befürwortete, ist Tiepolo dem epischen Universum Rubens’ verpflichtet, dem seine höchste Bewunderung galt. Es heißt, dass seinen Personen eine unnahbare Indifferenz eignet, doch kann es sich dabei auch um die äußere Ruhe des gesitteten Menschen handeln.
L’Europe d’après Tiepolo ist der letzte Teil eines musikalischen Zyklus, der sich mit der Allegorie der vier Erdteile befasst. Dieses für das ensemble recherche geschriebene und ihm gewidmete Stück bezieht seine Inspiration aus der Problemstellung des Malers, geht jedoch in seiner Gesamtkonzeption über eine vordergründige Bezugnahme hinaus. Zentrale Intentionen sind vielmehr die Gestaltung der Zeitstruktur sowie die Instrumentalforschung, sowohl im Bereich der Blas- als auch der Saiteninstrumente. Mein besonderer Dank gilt dem Komponisten und Klarinettisten Ivan Solano dafür, dass er mich bei meinen Nachforschungen über Techniken zur Erzeugung von Multiphonics angeleitet und unterstützt hat. Bei den drei Holzblasinstrumenten – Flöte, Oboe, Klarinette – wird diese Technik verwendet und dadurch eine gebrochene und zum Zerreißen angespannte Klangwelt erzeugt, die elektroakustischen Effekten sehr nahe kommt, und auch die Saiteninstrumente werden ähnlich eingesetzt. Dieses Stück nimmt Abstand vom System geregelter Übergänge, die der Spektralmusik eigen waren, die graduelle Dehnungs- und Stauchungseffekte nutzte.
L’Europe d’après Tiepolo verwendet für sein dynamisch-prozesshaftes Werden bevorzugt eine Abfolge kontrastierender Effekte, die durch die Art und Weise wie Ton und Geräusch sich überlagern und die wechselseitigen Deformationen um sich greifen bestimmt wird. Durch dramatische Tempobeschleunigungen entstehen Asymmetrien in der Wahrnehmung. Ein kontinuierlicher Übergang nimmt die Züge einer organischen Verformung an. Unter dem Einfluss mehr oder weniger prägnanter Interaktionen kann man sogar eine Skala der Alterationen aufbauen. Desgleichen eröffnet ein System mehrdeutiger Festlegungen – wie etwa der Unsicherheitsbereich, der zwischen einer harmonischen Struktur, einer spektralen Hülle und einer Klangfarbe bestehen bleibt – ein stark polarisiertes Wahrnehmungsfeld, das mit einer Auswahl an Leitdimensionen ausgestattet ist.
L’Europe d’après Tiepolo lotet auch die unterschiedlichen Aspekte einer „konsonanten Disharmonie“ aus, die Faktoren wie Geräusch, Spannung und Verzerrung zu integrieren vermag. Als Klangganzes konzipiert, zieht das Stück vor allem neue Register dynamischer Ausdrucksformen. Die Verkürzung, die Verdrehung, Bewegung, die auf der Stelle tritt, die ambivalente Rolle der Klangmasse, die Entfaltung einer der Genese des Werks zugrunde liegenden Ordnung, das Auftreten von Emergenzphänomenen jenseits einer kritischen Komplexitätsgrenze werden in das Repertoire der neuen plastischen musikalischen Ausdrucksmittel aufgenommen.
Im Bereich der höchsten Allgemeinheiten bleibend, muss man feststellen, dass die musikalische Komposition über synthetische, endliche und schlichte Mittel verfügt, um Phänomene zu übertragen oder neu zu ordnen, die in der Natur im infinitesimalen Bereich auftreten. Sie hat die Fähigkeit, diese wieder in das Empfindungsraste einzubinden. Die Affinität zwischen der Welt Tiepolos und der unseren lässt sich vielleicht im Wesentlichen in einer gemeinsamen dynamischen Auffassung von Kunst zusammenfassen, die die Unendlichkeiten miteinander in Verbindung setzt, eine Größenordnung durch eine andere moduliert und die Maßlosigkeit einer solchen Verschränkung der Welten durch ein unentwirrbares Netz an Größenordnungswirklichkeiten zum Ausdruck bringt.
1
Svetlana Alpers und Michael Baxandall, Tiepolo et l’intelligence picturale, aus dem Englischen von Xavier Carrière, Paris, Gallimard, 1996, 186. Deutsch: Tiepolo und die Intelligenz der Malerei, aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, Berlin, Reimer, 1996.
2
Ebenda, S. 166.