Bruno Mantovanis Orchesterwerk Time stretch (on Gesualdo) ist bereits das zweite Auftragswerk, das der Komponist für die Bamberger Symphoniker - Bayerische Staatsphilharmonie schrieb. Während das erste, im Oktober 2003 uraufgeführte Stück Mit Ausdruck, ein Konzert für Bassklarinette und Orchester, aus der intensiven Auseinandersetzung mit dem Schaffen Franz Schuberts resultierte, erkor sich Mantovani in seinem zweiten Werk für die Bamberger Symphoniker einen Künstler der musikalischen Renaissance zum kompositorischen Dialogpartner: Carlo Gesualdo (1566-1613), den berühmt-berüchtigten Zeitgenossen Claudio Monteverdis. Berüchtigt ist Gesualdo insbesondere wegen des Mordes an seiner ersten Frau, an dem er sich selbst beteiligt haben soll. Berühmt aber machte ihn seine Musik, die von einer eigenartigen Janusköpfigkeit geprägt ist. In einer Zeit, in der sich alles auf das Modell „Melodie plus Begleitung" stürzte, jene generalbassgestützte Einstimmigkeit, die zum Grundstein der Oper wurde, komponierte Gesualdo ausschließlich unbegleitete mehrstimmige Vokalmusik - ein kompromissloser Konservativer also. Gleichzeitig klingen seine Madrigale durch extreme chromatische Stimmführung derart modern, dass er sogar von seriösen Nachschlagewerken zum Wegbereiter der Hochromantik (!) erklärt wird.
Auf der Ebene der Harmonik ist auch der Ausgangspunkt von Mantovanis Time stretch zu suchen. Wie Mantovani bekannte, griff er in seinem Werk auf Gesualdos fünfstimmiges Madrigal „S'io non miro non moro" („Wenn ich nicht schaue, sterbe ich nicht") zurück: Er entnahm dem Vokalstück ein Grundgerüst von 130 Akkorden, das als harmonisches „Raster" auf die Gesamtdauer der eigenen Komposition ausgedehnt wurde - ein harmonischer Verlauf, von dem ausgehend Mantovani komponierte.
Auch auf anderen Ebenen nähert sich Mantovani mit seinem Instrumentalwerk dem Vokalkomponisten Gesualdo an. Er belässt zwar dem Symphonieorchester seine „modernen" Eigenheiten die instrumententypischen Spielweisen, den romantischen Gesamtklang, die Schlagzeugeffekte, zugleich aber wird es strukturell in eine Art „Chor"-Satz eingebunden. Die Bedeutung der Einzelstimme ergibt sich wie in Gesualdos Madrigalen nur aus dem Zusammenhang: als Bestandteil eines Akkords, einer Bewegung oder eines Geräuschs. Rhythmische Figuren wandern von einem Instrument zum anderen, ein Flötenmotiv wird von der Oboe übernommen, anschließend von der Klarinette usw. Streicher, Schlagzeuger, Holz- und Blechbläser agieren bevorzugt chorisch. Die einzige Ausnahme bildet ein Klarinettensolo im ersten Abschnitt des Werks.
Anfangs kreist die Musik um den Ton d, der in den vielfältigsten Schattierungen, auch vierteltönig „verschmutzt" dargeboten wird. Ein b tritt hinzu, aber erst das Klarinettensolo bringt die fehlenden Töne der chromatischen Skala. Nach einem gewaltigen Orchesterschlag, der alle zwölf Töne dieser Skala enthält, vollzieht sich der Fortgang der Musik auf zwei Ebenen: Im Vordergrund stehen jene Motivfloskeln und oft jazzigen rhythmischen Muster, die rasch durch das Orchester wandern und zur unruhig-schillernden des Stücks beitragen. Dahinter erklingen, vor allem in Streichern und Hörnern, Gesualdos Harmonien, teils nur kurz angerissen, teils in langen Liegetönen, deren Abfolge immer dichter wird.