Ich bin schon seit langem ein großer Fan von Pierre Boulez. Er ist ein inspirierter Dirigent, und sein kompositorisches Werk hat meinen Werdegang als Komponist beeinflusst.
Als ich mein Musikstudium begann, strebte ich zunächst eine Laufbahn in der Welt der kommerziellen Musik an, zum Beispiel im Bereich der Filmmusik. Ich habe dann Boulez studiert und bin so mit den geistigen Grundlagen seiner Kompositionen in Berührung gekommen. Ich beschäftigte mich eingehend mit den Fragen, die seine Theorien aufwerfen, kaufte mirRéponsund hörte diese CD zwei Monate lang jeden Morgen bei mir zu Hause. Ich begann, über Musik nachzudenken, nicht über Melodien oder Stimmungen!
Im August 2003 traf ich Boulez zum ersten Mal, und zwar in Luzern. Als ich ihm meine Arbeit zeigte, fühlte ich mich einer Ohnmacht nahe - es ging mir also nicht viel anders als jungen Mädchen, die ihrem Lieblingspopstar zum allerersten Mal von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Bei mir war es jedoch keine vorpubertäre Schwärmerei: Ich traf einen Mann, der die Richtung meines Lebens als angehender Komponist verändert hatte - eine Möglichkeit, die sich nicht vielen Menschen bietet. Ich sagte ihm, dass ich für die Workshops zum Erproben von neuen Stücken drei Miniaturen mit einer Länge von ein bis zwei Minuten schreiben würde.
Ich begann also mit der Arbeit an der ersten Miniatur und musste schon bald feststellen, dass ich nicht zu schreiben aufhören konnte. Schließlich hatte ich ein Fragment fertiggestellt, das fünf Minuten dauerte und in dem es viele Pausen gab, denn ich liebe die Art, wie Boulez Pausen dirigiert, und er sollte das auch für mich tun! Im April 2004 zeigte ich ihm die Partitur. Er meinte, ich könne ruhig mehr experimentieren, da mein Fragment nicht allzu schwer einzustudieren wäre. Ich fuhr nach Hause und komponierte drei weitere Miniaturen.
Als ich im September 2004 wieder in Luzern war und das Orchester meine ersten Entwürfe unter der Leitung eines meiner Idole spielen sollte, war ich überaus nervös. Boulez merkte das und beruhigte mich mit den Worten, dass es keinen Grund gäbe, mir Sorgen zu machen, dass alles schon gut gehen werde. Ich konnte dann kaum glauben, dass er tatsächlich Musik dirigierte, die ich geschrieben hatte, und dass er das Orchester für mich verstummen ließ! Ich entdeckte aber auch viele Stellen, wo meine Musik einfach nicht funktionierte. Ich nahm daher während des Workshops zahlreiche Änderungen und Streichungen in meiner Partitur vor und überprüfte diese Überarbeitungen immer wieder auf ihre Klangeigenschaften.
Die Möglichkeit, meine Komposition schrittweise zu erarbeiten, war für mich eine Bereicherung. Es geschieht selten genug, dass ein Orchester Werke junger Komponisten und Komponistinnen spielt, dass ich aber vor der Premiere das bis dahin Geschrieben überprüfen und neue Ideen ausprobieren konnte, war ein besonderes Privileg und mit ein Grund, warum mir die Fertigstellung dieses Stückes so großen Spaß bereitete. Ich habe in der Folge weitere Streichungen in der Partitur vom September vorgenommen und sie schließlich drei Monate vor der Zeit beendet. Ich wünschte, ich hätte bei allen meinen Aufträgen diese phantastische Möglichkeit!