Le Livre von Stéphane Mallarmé ist ein Grenzfall. Es stand, 1866, für die theoretische Möglichkeit eines Werkes, dessen Substanz hauptsächlich aus einer puren Form besteht, die sich, den vielfachen kombinatorischen Möglichkeiten gemäß, in der Zeit theatralisch entwickelt. Le Livre befreit sich in gewisser Hinsicht völlig von dem, was nötige Folge eines jeden literarischen Schaffensaktes zu sein schien: das Erzählen, die Person, der Sinn. Was andernorts literarisch gestaltet ist, wird in diesem Projekt von Mallarmé geplant: ein Lesen, das gleichzeitig Theatralik, Choreographie, Ritus, kombinatorische Erfahrung ist. Die Struktur von Le Livre schafft hier dessen eigenen Gehalt, ist das Gleiche und das Andere. Die Parallele zwischen Mallarmés Livre und Platons Theorie der Weltenseele ist beunruhigend.
In meiner Symphonie III (anima mundi) für 23 Solisten und Live-Elektronik habe ich meine Arbeit über die musikalischen Räumlichkeiten (was man etwas allgemeiner „Spatialisation“ nennt) weiterverfolgt und versucht, eine Kategorie denen hinzuzufügen, die ich vorher zusammengetragen hatte: Zum „Irgendwo“ und zum „Überall“ hat sich nunmehr das „Anderswo“ gefügt, das heutzutage für mich musikalisch denkbar ist, besonders durch die Vermittlung der informatischen Werkzeuge der Verräumlichung und vor allem durch deren Beziehung zur Partitur. Die 23 Solisten des Klangforum Wien sind arrangiert zu fünf Gruppen rund um das Publikum, während die 12 Lautsprecher diesen Instrumentalen Klangkörper in eine ausgedehnte klangliche Sphäre des Möglichen werfen.
Diese Sinfonie ist ein Theater: Ungefähr einer Stunde lang, ähnelt sie einer Oper, die zwar frei von Darstellung ist, aber reich an purer Rhetorik (sie bestärkt also die meiner Meinung nach einzig akzeptable Definition von Musik: aussprechen, ohne zu bezeichnen); die Sinfonie ist auch das Schauspiel eines Kampfes zwischen verschiedenen Räumen, reell oder imaginiert, konkret oder virtuell; die tatsächliche Dramaturgie der fünf Instrumentengruppen und das Klanggewebe der Lautsprecher um das Publikum schaffen eine Vielfalt von Beziehungen, und zwar von der Übereinstimmung (in dem Sinn wie bei Saiten gleichen Namens) bis zur gegenseitigen Annulation, die sich zwischen den Parteien ereignen durch Ornamentation, Kontrapunkt, Analyse. So wird in dieser Sinfonie die Frage der Interpretation und des Hörens aufgeworfen. Als eine mögliche persönliche Interpretation von Mallarmés Le Livre bringt das Werk diese dimension compossible an den Ort des Konzertes: Jeder Zuhörer kann in individueller und kohärenter Art das komplexe und substanziell inkomplette Spektrum interpretieren – das Spektrum dessen, was er hört, wahrnimmt, unterscheidet oder durchschaut, je nach seiner Position: nah oder fern einer von einem Teil der Lautsprecher beschallten Zone.
Schließlich wird der Zuhörer eingeladen, an Erinnerungsstücken teilzuhaben: Erinnerungen an imaginäre Choreografien in der zügellosen „suite de danse“, die den ersten Teil beschließt (Mallarmé gewährt dem Tanz einen herausragenden Platz, indem er ihn einer körperlichen Prosa gleichsetzt); Erinnerungsstücke aus der Sinfonie selbst, die – aufgenommen und während des Konzertes dupliziert – erste Auslöser, die erste Materie fremder Polyfonien werden; zuletzt Erinnerungen an Tonalität, phantomhaft, als ewig sterbendes, verlorenes und immer wiedergefundenes Paradies.
Die Symphonie III (anima mundi) ist geschrieben für die 23 Musiker des Klangforum Wien: 2 Flöten, Oboe, 2 Klarinetten, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Akkordeon, 2 Klaviere, 2 Schlagzeuger, Harfe, 3 Violinen, 2 Bratschen, 2 Celli und Kontrabass. Sie wird realisiert mit Hilfe und dank der Technik des IRCAM, sowohl beim Komponieren als auch im Konzert.