Gebirgskriegsprojekt
Gebirgskriegsprojekt

Ein sowieso selbstverständliches Statement über die Sinnlosigkeit des Krieges zustande zu bringen, war nicht die Absicht meiner Beschäftigung mit diesem Thema und den alten Materialien. Ich habe eher versucht, die Gebirgsfront des Ersten Weltkriegs in Richtung Tiefenpsychologie und Geologie hin zu bewegen, ich verstand sie als etwas, dessen Gewalt und Energie sich in der Geologie und Biologie und Physiologie auflöst. Wenn man hoch oben in den Dolomiten oder in der Ortlergruppe dort verweilt, wo Menschen in 3.500 Meter Höhe nicht nur ein ganzes Jahr hindurch überleben mussten, sondern einander auch noch töten sollten, in hundert Meter Entfernung, gegenüberliegend, dann sieht man die Spezies Mensch plötzlich ganz anders. Ich hatte mich in den USA so sehr mit Wildnis und der „reinen Natur" und deren spiritueller Bedeutung dem Menschen gegenüber beschäftigt. Hier fand ich in Europa etwas genauso Expressives und Berührendes, aber blutgetränkt und historisch sehr aufgeladen.

Ich begann hartnäckig, dann systematisch und zuletzt ziemlich fanatisch die Kampfstätten des Ersten Weltkrieges im Hochgebirge zu besuchen. Ich habe auf 3.700 Meter Höhe Menschen­knochen in der Hand gehabt. Ich bin durch Tunnel gekrochen und in den Baracken gewesen jen­seits der Gletscher, ich habe versucht, das Werk nicht als systematisches Konstrukt aufzubauen, sondern eher als etwas Erlebtes, Gefühltes. Wenn man alleine so hoch in den Bergen geht, denkt man, und ich als Komponist denke im Klang. Es gibt so eine Raumklangvorstellung, die nah und fern zugleich ist und das wollte ich für dieses Werk. Es gibt in diesem Werk keine Instrumente rund um das Publikum, sondern acht Lautsprechergruppen, aus denen die vorweg im Funkhaus Wien aufgenommene Orchesterklänge sowie konkretes Klangmaterial zu hören sind. Das Orchester wurde aber auf möglichst intime Weise aufgenommen, jedes Instrument einzeln und sehr nahe mikrophoniert. Es wird also ein völlig künstlicher Klangraum rund um das Publikum aufgebaut, etwas, das man von der Bühne aus, oder Stereo, oder aus dem Radio nicht erleben kann. Während der Stunde, die dieses Stück dauert, wird der Instrumentalklang und die konkreten Klänge ständig bewegt, manchmal sanft, manchmal brutal. Und, das ist das Entschei­dende, immer mit Bezug auf das Bild. Die Leinwand, auf der man das Video sieht, bestehend aus historischem Film­material aus dem Weltkrieg, Landschaftsbildern aus den Dolomiten, verschiedenen Verfremdungen und Überlage­rungen, also diese Leinwand muss man sich vorstellen wie einen Magnet, ein Magnet, der nicht nur anzieht, sondern natürlich auch abstoßend wirken kann. Die Aktion auf der Leinwand treibt manchmal den Klang davon, manchmal saugt sie ihn ein, manch­mal wirbelt sie den Klang herum. Und das Publikum befindet sich immer im Zentrum dieser Kräfte.  Konzipiert ist das ganze wie eine Fuge in vier Stimmen, als wäre es eine Konzeption von Johann Sebastian Bach. Die vier Stimmen lauten: 1. Historisches Bild, also Filmmaterial aus dem Ersten Weltkrieg. 2. Naturbilder, also die Orte, wo gekämpft wurde. 3. Instrumentalklang und Konkretklang. 4. Die Bewegung des Klangs gegenüber Stimme Eins und Zwei. Das sind wie die vier Stimmen einer Fuge und wie bei jedem guten Kontrapunkt bewegen sich die Stimmen nicht parallel, sondern wirken aufeinander. Ich versuchte also eine organische Struktur aufzubauen, so dass ein Stück entstehen konnte, das weder Film noch Musik ist, auch nicht dazwischen, sondern fast wie eine neue Gattung.

Das Werk hat eine eher auf Träumen beruhende Erzählstruktur, wie eigentlich alle meine Werke. Es gibt eine Art Einleitung, in der man fast ständig die Felsen des Travnanser-Tales sieht, das ist eine sehr merkwürdige Felsstruktur, mit Löchern und horizontalen Felsstrukturen, und das ist so gefilmt, als würde die Kamera in diesem Buch der Natur lesen können, von links nach rechts, von rechts nach links. Anschließend kristallisiert sich eine Art Erzählung heraus, eine „abstrakte Kreiserzählung" über die Gebirgsfront. Es wird aufgestiegen, es wird transportiert, man sieht mindestens zwanzig Minuten lang Fragmente aus alten Filmen mit Soldaten, die Kanonen oder anderes Zeug endlos mühsam nach oben schleppen, auf den Gletschern, über die Felsen, die marschieren endlos nach oben. Es gibt mehrere Unterbrechungen dieser Erzählung, also Orchesterzwischenspiele, in denen die Instrumentalmusik sich fast in Richtung einer symphonischen Exposition zu bewegen scheint. Nachdem man das Zeug nach oben geschleppt hat, wird die Musik dann weniger und weniger zielgerichtet, als ob die erzählenden Kräfte des Werkes nach etwa einer halben Stunde nicht mehr so sehr von einer symphonischen Entwicklung von Themen und Pseudo-Themen ge­tragen wären, als eher durch das Bild. Der Klang wird bescheidener, zieht sich zurück. Er flüstert sozusagen: Schau mal, was da passiert. Man hört Liegeklangflächen, bei denen die Tonhöhe fixiert ist, seine Raumposition natürlich nicht. Aber im Vergleich zu den manchmal wütenden Klängen der ersten halben Stunde wirken die Klänge zurückhaltender, fast wie im Halbschlaf. Es gibt dann im Film auch einige, meist gestellte Kampf­szenen, also die Eroberung einer italienische Stellung durch die k.u.k. Armee, dann wieder ein Orchesterzwischenspiel und schließlich eine lange Sequenz, die sich mit dem Abstieg und dem Abtransport der Verwundeten beschäftigt. Die Musik bleibt zurück­haltend, bis zu einem Punkt kurz vor Ende, wo es eine Art falsche Rekapitualation gibt, also the­matische Fetzen aus den ersten zehn Minuten des Werks werden nochmals gehört, albtraumhaft, lösen sich auf. Das Werk schließt eher unentschlossen und nachdenklich, aber dennoch unruhig.

George Lopez im Gespräch mit Christian Scheib
Interpret/innen

George Lopez, Komposition
Michel Koenders, Sound Design, Verräumlichung, Mastering
Christian Venghaus, Sound Design, Beratung
Yvonne Mohr, Schnitt und Video Compositing
Georg Penn, Kamera
Dominique My, Dirigentin
Klangforum Wien

Kooperationen

Ein Auftrag von musikprotokoll und Ruhrtriennale. Eine Kooperation von Ruhrtriennale, ZKM Karlsruhe und ORF in Zusammenarbeit mit dem Klangforum Wien.

Termine
Location
Dom im Berg
Film
Uraufführung
Biografien
Dieses Werk gehört zu dem Projekt:
musikprotokoll 2003 | Gebirgskriegsprojekt