Das Komponieren von Werkzyklen verweist in meiner Arbeit - aus Neigung und Notwendigkeit - auf den mittelalterlichen Gedanken des „corpus", verstanden quasi als Nährboden und Erzeuger unterschiedlicher Arten von theoretischen Überlegungen. Die 1989 begonnenen und bis heute unvollendeten Six Canons (Musurgia combinatoria) sind Teil eines solchen Zyklus.
Zu meinem ganz persönlichen „Pantheon" der Musiktheorie gehört, neben einigen anderen, vielleicht weniger aufregenden Autoren Anasthasius Kircher, ein gebildeter Jesuit, der Mitte des 17. Jahrhunderts wirkte. Der Untertitel meiner Kanons bezieht sich ausdrücklich auf seine 1650 in Rom veröffentlichte Schrift Musurgie universalis. In diesem ausführlichen Kompendium, das von allem handelt, was Musik in allen ihren Ausformungen betrifft, ist das theoretische Denken in dauernder Bewegung und wendet sich in Richtung einer kritischen Rationalisierung; dabei findet besonders ein Ansatz Verwendung, den Georg Lukas wesentlich später als die „Figur der Totalität" bezeichnet hat. Die kombinatorischen Grundlagen, wie sie musiktheoretisch von Marin Mersenne und naturwissenschaftlich von Constantin Huygens, später von Leibniz vertreten wurden, legitimitierten damals solche Untersuchungen.
Das Wunschbild der Vollständigkeit ist schließlich auch bei diesen Kanons am Werk. Die Komposition als kritischer Augenblick der Realisierung sucht bei der Ausfilterung der möglichen Lösungen oft Zuflucht über den Umweg einer subjektiven Ästhetik. Hier ist die Totalität aller möglichen Lösungen bei einem natürlichen Problem angelangt, eingegrenzt in einen kombinatorischen Raum der angepassten Zwänge, die in ihrem notwendigen Überfluss ins Auge gefasst weden. Im Gegensatz zum äußeren Anschein sind die beiden Positionen am Ende kaum Gegensätze: die „Charakterdisposition" beruft sich einfach auf einen umfassenden musikalischen Aktionsraum.
Ich glaube, dass die „kritische" Verwendung von Kompositionstechniken der Vergangenheit (im speziellen der Satztechniken des Kanons als Beschäftigung mit den Proportionen und Ausdehnungen, d.h. mit der Quantität und Qualität von musikalischer Zeit) einen „Konflikt" zulässt, der unter der rhetorischen Oberfläche der Musik reich an ästhetischen Erfahrungen sein kann, da diese Techniken Einblick gewähren in ihre Organisation der eher zwischengelagerten Ebenen und die notwendige Strenge ihres architektonischen Aufbaus. Man kann beinahe behaupten, das Sujet des Kanons sei hier der Kanon selbst - als Kompositionstechnik selbstverständlich, aber wesentlicher noch als Bild des Denkens über ästhetische Zeit im Spiegel der Vergangenheit.
Ich könnte noch ein paar andere Komponenten anführen, die direkt oder indirekt die Komposition dieses Werkes beeinflusst haben: mein Studium der barocken Tonsprache, insbesondere als Cembalist, die Folgeerscheinungen meiner Beschäftigung mit computergestütztem Komponieren als Assistent am IRCAM als eine Art „Auto-Psychoanalyse" meines zwischenmenschlichen Verhaltens (Sozialverhaltens) während der Zeit der Komposition, und schließlich meine Zusammenarbeit mit Emilio Pomärico, einem echten Vollblut-Musiker, den ich ganz besonders schätze, sowohl als Komponisten als auch als Dirigenten.