Notizen zum Oboenkonzert
„Wir haben heute drei Dimensionen in der Musik: horizontale, vertikale und dynamische Zu- und Abnahmen. Ich möchte noch eine vierte hinzufügen: Klangprojektion - jenes Gefühl, dass Klang uns ohne die Hoffnung verlässt, durch Reflexion zurückgeworfen zu werden, ein Gefühl vergleichbar dem, das durch Lichtbündel hervorgerufen wird, die ein mächtiger Scheinwerfer aussendet, - Projektion für das Ohr vergleichbar jener für das Auge, jenes Erlebnis von Projektion, von Abreise in den Raum."
Diese Sätze, zitiert aus der Vorlesung
„Die Befreiung des Klangs" (1936), stammen von Edgard Varese und finden eine literarische Entsprechung in einem kurzen Text, der betitelt ist Die Musik des Unsichtbaren von Antonin Artaud, jenem Dichter, mit dem Varese ein Bühnenprojekt plante, das jedoch nie zustande kam.
„Wir werden erforschen, was von einer alten Viertelton-Musik, die bis zu sechzigtausend Noten umfasste, die Zeit überdauert. Wir werden Instrumente beschreiben, wie zum Beispiel jene, deren Schrei von Gipfel zu Gipfel zurückgeworfen wurde und die das Meeresrauschen übertönen." (Antonin Artaud: Die Musik des Unsichtbaren, aus: Die Tarahumaras. Revolutionäre Botschaften)
Mein Oboenkonzert ist der Versuch, mit der Geste des Rituellen zu arbeiten. Das Rituelle ist für mich Utopie, in der Form, wie Boulez´ Rituel Ritual ist, - ein Blick eines Europäers auf das Andere (fremde), oder wie Henri Rousseau meinte, er male im ägyptischen Stil. Das Andere stellt das Ich dem Tod gegenüber: stumm, machtlos, „ohne jede Initiative", wie Emmanuel Levinas in seinem Buch Die Zeit und das Andere sagt.
Das Stück beginnt in einem klanglichen Urzustand: der Raum wird erfüllt von einem kaum wahrnehmbaren Rauschen tiefer Trommeln, aus dem sich langsam ein Metrum formiert. Der gesamte erste Teil des Stücks, zugleich der längste, exponiert drei gleichzeitig ablaufende Schichten: die des Rezitativs der Oboe, in dem alle Klangregister des Instruments aus genützt werden; die Oboe spielt, wie das übrige Orchester, im unteren dynamischen Bereich. Der Solist ist hier Rezitator, Bewegungsträger und Impulsgeber.
Kontrapunktiert wird das Rezitativ von jener perkussiven Konstante, die stets vom Rauschen zum Geräusch ins Metrische kippt und umgekehrt.
Die dritte Schichte sind die sich unmerklich verändernden Klänge des Orchesters, die den Eindruck von Langsamkeit und Statik hervorrufen. Die Akkorde sind clusterartig dicht und beinhalten die Töne jenes Zentral klangs (c,es,h), der erst viel später, im zweiten und vierten Teil in Erscheinung tritt. Die Unbewegtheit des ersten Teils wirkt bedrohlich: gegen Ende separieren sich Akkordblöcke zu kurzen Klangexplosionen, gefolgt von Pausen (Stille), die den rezitativischen Fluss des Solo-Instruments brechen.
Der zweite Teil beginnt mit schneidend grellen Farben; die Textur bleibt flächig, wird aber durch die Einführung von Vierteltönen feiner rastriert. Die Oboe droht in den Klangmassen des Orchesters zu verschwinden, setzt einen Bewegungsimpuls, der vom Orchester aufgegriffen zu einem tumultösen Ausbruch führt und direkt in die Kadenz (3. Teil) mündet: Schlagzeug und übriges Orchester kulminieren - Atemgeräusche der Bläser und ton höhenlose Schlag- und Geräuschaktionen der Streicher begleiten den ekstatischen, anrufungsartigen Gesang der Oboe.
Zu Beginn des vierten Teils beruhigt sich das Geschehen zunächst: Rezitativfragmente erzeugen Nachhall, so entsteht ein langes obertöniges Klangfeld, in das die Oboe Mehrklänge einfügt. Kurz vor Schluss mündet dieses Klangfeld in eine Reihe gewaltiger Schläge. Der Zeitfluss ist ein anderer geworden: das schlaglichtartige Aufeinanderprallen dynamischer und klanglicher Extreme erzeugt gegen Ende den Eindruck eines sich bewegenden Klangkörpers.