Danse aveugle
Danse aveugle

Bei Danse aveugle handelt es sich um eine Komposition, die man grob durch eine Bogenform beschreiben kann: ähnlich wie beim Tanz  vollziehsich eine allmähliche Steigerung mit kör­perlich rauschhaftem Charakter. Diese Steigerung wird bis zum Zusammenbruch getrieben, der sich zunächst mit einzelnen Aussetzern und Lücken ankündigt. Die Bogenform ist Resultat einekomplexen prozessorientierten Kompositionsform. Sieht man ab von der Betonung, diim Rondo gewöhnlich auf die Wiederkehr des Bekannten gelegt wird, lässt sich auch eine rondoartige Anlage erkennen. Hier liegt  diEmphase auf dem Neuen, denn auch die wiederholten Abschnitte, und fast alle Abschnitte werden dreimal wiederholt, kehren nur in veränderter Form wieder. Der gesamte Formverlauf lässt sich - über Brüche und Aperiodizitäten hinweg - als allmähliche Konsolidierung der Reihenform 123/234/345/456 beschreiben, die anschließend wieder zur Auflösung gebracht wird. Ganz offensichtlich lässt sich von einer solchen sequenziellen Form weder Symmetrie noch Geschlossenheit durch reprisenhafte Elemente erwarten. Vielmehr könnte man von einer parataktischen Struktur sprechen, die ein Element ans andere reiht, allerdings immer wieder quasi hypotaktische Einschübe aufweist, in denen Bekanntes in veränderter Form wieder auftaucht.

Nach einer ersten Phase, in der sich die Steigerungbewegung erst allmäh­lich selbst konsolidiert, finden sich mehrere solistisch gestaltete Abschnitte. Wie im ganzen Stück ist auch in diesen Passagen das Klanggeschehen in sich äußerst fein differenziert. Ein ganzes Spektrum verschiedenster Ausdruckswerte wird entfaltet, das von den Solisten große Virtuosität, konzertante und häufig sehr schnelle Spielweisen verlangt.

Statt Entfaltung einzelner Ausdrucksbereiche geht es vielmehr um Verschiebungen, Übergänge und Ähnlichkeiten, um Abwandlungen und Entwicklungen, die nicht vorherzuse­hen sind und dennoch Ähnlichkeiten und assoziative zusammenhänge er­ kennen lassen. Die Ausdruckbereiche selbst sind meist nur flüchtig ent­wickelt und haben eher kontingenten Charakter.

Die etwa viertelstündige Komposition besteht aus ingesamt knapp 40 Abschnitten, die abgesehen von ei­nem einminütigen Abschnitt ganz zu Beginn meist zwischen 15 und 40 Sekunden dauern. Bei der Arbeit an der Komposition hat Kyburz wie oft bei seinen Stücken mit Algorithmen und Fraktalen gearbeitet. Der Computer dient dabei sowohl zur Unterstützung bei der genauen Formulierung der Konzeption wie auch als Möglichkeit zum Testen und zum Prototyping. Die rekursiven Algorithmen implizieren einerseits ei­ne handlungsorientierte Arbeitsweise: die Komposition wird durch Anwendung bestimmter Regeln gene­riert, statt aus Motiven und Themen durch Veränderung, Wiederholung und Kontrastbildung. Auf diese Weise kann ausgehend vom konkreten einzelnen die Gesamtform in ihrer ganzen inne­ren Komplexität erzeugt werden.

Folgt man dem musikalischen Geschehen, so kann man beobachten, wie immer wieder Elemente des Vordergrunds im Hintergrund echoartig variiert und wiederholt werden, während zugleich andere aus dem Hintergrund hervortreten und sich im Vordergrund zu neuen Gestalten ent­wickeln. Die rekursiven Algorithmen produzieren baumartige Strukturen, ei­ne bestimmte, relativ stabile, in sich allerdings immer oszillierende Räumlichkeit. Auf diese Weise entsteht ein schlüssiger und erstaunlich transparenter Zusammenhang zwischen Makro- und Mikrostrukturen.

Trotz der Dichte an musikalischen Ereignissen bildet sich in den einzelnen Abschnitten ein recht einheitliches Klangbild. Besonders zu Beginn des Stückes, also während der Konsolidierungsphase, bevor sich der Steigerungsprozess stabilisiert, erzeugt das Oszillieren zwischen Vordergrund und Hintergrund eine suggestive, fast sogartige Desorientierung, da hier die innere Instabilität des Gesamtgefüges ebenso wie der Mikrostruktur durch zahlreiche Perspektivwechsel beson­ders ausgeprägt ist. Die so entstehen­ de musikalische Situation lässt sich vielleicht am ehesten mit dem filmi­schen Effekt von schnellen Kameraschwenks vergleichen. Ganz ähnlich ergeht es dem Hörer bei Kyburz´ Stück, wenn er versucht, Ereignisse im Vordergrund zu erfas­sen, während sie bereits schon wieder in den Hintergrund getreten sind.

Kyburz´ Musik fordert durch diese Behandlung der einzelnen Ereignisse den Hörer geradezu dazu auf, sich ganz auf den gerade gegenwärtigen musikalischen Moment einzulassen. Unvermerkt vollzieht er auf diese Weise auch die Entwicklung des Gesamtverlaufs mit, die sich aufs eng­ste mit der Mikrostruktur verschränkt. Dies wirft auch Licht auf den Titel, der sich vielleicht gar nicht in Erinnerung an Theoreme der radikalen Konstruktivisten über die Fensterlosigkeit der Innenwelt kom­plexer Systeme erklären lässt, sondern als Verweis auf das paradoxe Verhältnis, das oft genug zwischen blinder Verstrickung in die Gegenwart und dem nichtsdestotrotz groß ange­legten Gesamtprozess zu  beobachten ist.

Sabine Sanio
Interpret/innen

Klangforum Wien
Dirigent: Peter Rundel

Kooperationen

Kompositionsauftrag des Musikprotokolls

Termine
Location
Grazer Congress – Stefaniensaal
Konzert
Uraufführung
Biografien