musikprotokoll 1968
Rede zur Eröffnung des ersten musikprotokolls im steirischen herbst 68

Angenommen, wir könnten uns in dieser Stunde weit fort aus diesem Saal begeben - ich repliziere nicht die geheimen Wünsche jener, die um des nachfolgenden Empfanges willen gekommen sind - angenommen also, ein naher Stern wäre es, den wir erreichten - eine Vorstellung, die uns nicht fremd ist - wir könnten, die Dimension der Zeit hinter uns lassend, uns wen­ den - wie groß wäre unser Staunen im Bewußtsein dessen, was wir eben noch erlebten: Ein erloschener Stern umkreist gelassen seine Sonne, nichts kündet davon, daß auf den Meeren, auf den verkrusteten Erdteilen alles in Bewegung ist, der Lärm ist verstummt, aber wir spüren noch, entrückt dem dichten Netz der drahtlosen Signale, den Nachklang der Information: Bildungsexplosion - Hunger in Biafra, Mao-Mao-Mao - Jacqueline Onassis, Frankfurter Buch-, - Grazer Herbstmesse, Halten verboten, Rauchen verboten, Eintritt verboten, Ausfahrt verboten, lange Haare verboten - Reden erlaubt: Hochgeehrte Versammlung, Herr Präsident, Herr Verwaltungsrat, am Beginn meiner Ausführungen, am Ende meines Vortrags, im Bewußtsein der Bedeutung, ein erhebender Augenblick, und es ist uns ein Bedürfnis, lang lebe das Brautpaar - Atombombentest.

Repressive Toleranz, Establishment, Apo, Jan Palach - Dubcek, Smrkovski, Goldstücker, Kohout, John Lennon, Yoko Ono, Schranz, Björregard, Orsolitsch - Relativitätstheorie, Quantentheorie, Molekularbiologie, Genetik, Elektronik, Kybernetik - Haschisch, Marihuana, LSD - Weststeirischer Herbst, Obstproduktion, Fruchtsaftindustrie, Molkereiprodukte, Land­ maschinenschau, Landesräte, Spatenstich, Bundeskanzler - steirischer herbst, Trigon, Maierwachen, Akademie, Literatursymposion, Musikprotokoll, Krenek, Ligeti, Penderecki, Canetti, kein Bundeskanzler.

An diesem Punkt heißt es das Experiment abbrechen, auf die Erde zurückkehren, hierher nach Graz, und nach den zulässigen Assoziationen feststellen, daß der steirische herbst und mit ihm das Musikprotokoll in dem Ambiente, das uns gegeben ist, offenbar eine tiefen Sinn hat.

Es mag als weltfremdes Unternehmen gewertet werden, aber wenn es als das anerkannt wird, muß zugleich das anwachsende Chaos divergentester Phänomene, muß das Überschreiten der Reizschwelle durch Wiedergabe und Information, muß die Sinnentleerung eingehämmerter Slogans, angelernter Phrasen, des Wissens als Selbstzweck, müssen Prosperität und zivilisatorische Dynamik als eigentliche Selbstentfremdung entlarvt, muß der Mensch als ferngelenkter, schöpferischer Individualität beraubter Speicher surrogativer Kräfte verstanden werden; dann aber wird die Begegnung mit Kunst und Musik zum Naheliegenden, zum Erstrangigen, zum Mittel notwendiger Sensibilisierung, zum Beheimatetsein inmitten der primären Realität, in den Dimensionen der Zeit und Stille, wie Penderecki eines seiner Werke nennt, in den Couleurs de la Cite celeste, die Messiaen beschwört, in den kosmischen Spielen, wie Josef Matthias Hauer seine Musik verstanden wissen wollte.

Emil Breisach
1997