Konkurrenzloses Musikprotokoll
Eine (vorsichtig optimistische) Betrachtung - Rückblick nach zwanzig Musikprotokollen (1987)

Am Anfang agierte nicht A, sondern B; nicht B wie Beginn, sondern wie Breisach. Emil Breisach, einer der Geburtshelfer des steirischen herb stes, darf als Erfinder des Musikprotokolls gelten. Der frisch gekürte Intendant des ORF-Studio Steiermark überzeugte seinen da­ maligen Generalintendanten Bacher von der kulturpolitischen Notwendigkeit eines Musikprotokolls mit überregionalem und aktuellem Zuschnitt. Und so er­ leben wir es nun in Graz Jahr für Jahr, erleben es engagiert und interessiert mit all seinen Schwankungen und Fragezeichen, die immer dann größer (und banger) sind, wenn im ORF die oberste Führungsspitze wechselt. Denn schon heute, in den Tagen des 20. Musikprotokolls, läßt sich abschätzen, daß diese Einrichtung eine der allzu wenigen evolutionsträchtigen Zellen ist, denen in einer Kulturgeschichte der zweiten Republik hoher Stellenwert gebühren wird.

Zwanzigmal Musikprotokoll, als wichtige Ingredienz im steirischen herbst verankert: ein Grund zum Feiern? Protokoll meint sachliche Information, forciert den Studiocharakter, öffnet sich unvoreingenommen dem Unbekannten, dokumentiert Gegenwartsmusik jeglicher Ausprägung, spiegelt Zeitströmungen und auch Mode.

Was heute komponiert wird, soll und muß auch heute erklingen. Was bleibt, was die Zukunft annimmt, kann und will kein Musikprotokoll vorausprogrammieren. Newcomers finden gleiche Voraussetzungen vor wie Arrivierte. Den Jungen eine Chance einräumen, war schon ein Leitgedanke der ersten Stunde. Jedenfalls wollte und will das Musikprotokoll kein Fest sein. In seinem Gründungsjahr schlich ein leises Unbehagen an diversen Festivals neuer Musik durch die Avantgardereihen. Musikfeste als urbanes oder nationales Ereignis, als gegenwartsorientierte, marktlenken­ de Mustermesse, als international ausgerichteter Trendsetter: In diese Kategorien mochte das Musikprotokoll nicht einsteigen, auch nicht in eine dem Darmstädter Ferienkursen ähnliche. Dazwischen fand sich genügend Freiraum für Versuche, neue Musik aus den üblichen Präsentations- und Kommunikationsmechanismen her• auszuheben. Die Versuche haben, einschließlich aller unvermeidlichen Rückschläge, ermutigende Resultate gezeigt. Seiner Struktur nach ist das Musikprotokoll in der näheren und weiteren Umgebung nach wie vor konkurrenzlos. Und wenn kommenden Herbst Claudia Abbado erstmalig sein "Wien modern" auf­ ziehen wird, wird das auch keine Konkurrenz sein, da sich die selektierende Programmierung jeweils auf nur eine Handvoll sehr prominenter Komponisten stützt. Im Gegenteil: Graz und Wien könnten dann eine einander wirkungsreich ergänzende Achse in einem von Österreich ausgehenden Kräftefeld neuer Musik bilden.

Nicht in einer Großmetropole angesiedelt, darf das Musikprotokoll für sich buchen, überschaubar und beweglich geblieben sowie der Gefahr des Verkrustens großteils ausgewichen zu sein. Von den mehrfach rezessiven Prozessen, die jedem kulturell wachen Geist reichlich zu schaffen machen, ist es zwangsläufig nicht verschont geblieben.

Zudem steht der sinkenden Tendenz der Ideen die steigende der Kosten gegenüber. Dieses Schere-Bild sollte sich wandeln: der Überdruß an Postmodernismen läßt hoffen, daß sich über kurz oder lang von Grund auf innovative Ideen regen. Gerade in solchen entscheidenden Phasen dürfen sie nicht durch bloße Kostengründe scheitern. Das er­ heischt ein waches Gespür des Musikprotokolls für jene schöpferischen Gebilde. die den Keim des ursprünglich Neuen in sich bergen. Dadurch sich verschiebende pro-. grammatische Schwerpunkte aufzugreifen. wäre eine Bestätigung für bewahrte Flexibilität  und  Vitalität. 20 Musikprotokolle haben viel statistisches Material von analytisch-informativem Wert gefördert.

Einschließlich 1987 wurden Stücke von rund 330 Komponisten gespielt. Falls alles  so  weitergeht. wird voraussichtlich im Jahre 1990 die 1000. Komposition auf- oder uraufgeführt. Ganz genau aber läßt sich solches nicht bestimmen, da Gruppenkompositionen. grafische Notationen. Kollektivimprovisationen und aufs Verbale beschränkte Aufführungsanweisungen exaktes Zählen und Datieren hintertreiben. Einiges bleibt nachhaltend in Erinnerung. Zum Beispiel die imponierende Menge der Uraufführungen. schon im ersten Musikprotokoll (1968) waren es zehn von 38 Stücken (36 Komponisten). Das dokumentiert Risikofreudigkeit. unterstrichen durch Kompositionsaufträge (ab 1970) und Kompositionswettbewerbe. Die Ausweitung auf mehrere in der Steiermark gelegene Spielstätten ab 1969 - in jüngster Zeit wegen ökonomischer Zwänge wieder reduziert - bezeugt das didaktische Bemühen des Musikprotokolls. ein noch unverbildetes. desto aktivierbareres Publikum einzubinden.

In Erinnerung bleiben auch manche Retrospektiven (jene. die Varèse zugedacht war, hat sich als der „modernste", die Zukunft aufdeckende Beitrag erwiesen) und Personalen (von Skrjabin über Krenek bis Ligeti), die nicht weniger als die Uraufführungen das internationale Interesse am Musikprotokoll gemehrt haben. Solche Schwerpunkte sind thematisch gerüstbildend und bereichernd: Futurismus etwa; Wandelkonzerte; Präsentation international führender Komponisten; jugoslawische, ungarische, tschechoslowakische, norditalienische Komponisten (damit den "Trigon"­ Gedanken aufgreifend). Und immer wieder der hohe Anteil österreichischer Komponisten.

Indes ist das Musikprotokoll nicht völlig isoliert darstellbar.

Aufrundung und Flankenstärkung liefern ihm im steirischen herbst das Opernhaus Graz (Penderecki, Cerha, Ligeti, Zykan, Eröd,u.a.), das jugendorientierte open hause, die Mürztaler Werkstatt, Henzes Jugendmusikfest. Zweimal hat das Musikprotokoll seinen eigenen Rahmen gesprengt durch die IGNM­Feste 1972 und 1982. 1972  feierte die IGNM ihr 50. Bestandsjahr in Graz. Das Feld war weiter gefaßt als sonst, man inkludierte etwa auch Dallapiccola mit der Uraufführung seines letzten Werkes „Commiato" (Abschied) in memoriam Harald Kaufmanns, der publizistisch so unendlich viel für die Aufbereitung der neuen Musik und damit für das Musikprotokoll geleistet hat. Von ihm führt der Weg zu den Symposien, seit 1971 an das Musikprotokoll gekoppelt, eingesetzt, um Musik unter verschiedenen Gesichtspunkten in gesellschaftliche zusammenhänge zu stellen und kunstkritisch zu durchleuchten. Es spricht für die Symposien, daß auch die erste Garnitur der Fachwissenschaftler mitgemacht hat. Unversehens ist dem Thema zuliebe Emil Breisach in den Hintergrund geraten (desgleichen seine Protokollstützen, erst Peter Vujica. ab 1973 Karl Ernst Hoffmann).

Jedoch leistet das Musikprotokoll 1987 selbst die treffendere Würdigung: Hommage à Breisach, zehn Komponisten stellen sich mit zehn Uraufführungen ein. Bedarf es da noch verbaler Hinweise auf „Verdienste"? Was ihm vorschwebte, ist im Prinzip aufgegangen: den gewaltigen Nachholbedarf an neuer Musik  aufzuarbeiten: Publikum, nicht nur Fachleute. für die  Sache zu  gewinnen; das  Musikprotokoll als international anerkannt und geschätzt zu installieren; renommierte Komponisten freundschaftlich an Graz und das Musikprotokoll zu binden; durch Aufträge Talente aufzuspüren.  In  20  Musikprotokollen hat es Breisach, wie er kürzlich sagte. gelernt, mehr Qualitätsempfinden für die neue Musik zu entwickeln. Das habe ihm Freude bereitet. Ich hoffe inständig, daß Emil Breisach in diesen für das Musikprotokoll so notwendigen Eigenschaften kein Einzelgänger bleibt.

Persönlich zu schließen, sei mir erlaubt: Keines der bisherigen 20 Musikprotokolle wollte ich missen, obwohl ich mich zuweilen kritisch geäußert habe. Umso mehr möchte ich auch zukünftig alljährlich ein Musikprotokoll erleben. Und nochmals sei die Hoffnung angerufen, daß nun ich in diesem Wunsch kein Einzelgänger bleibe.

(Gekürzter Nachdruck aus dem Programmbuch 1987)

 

 

 

 

Lothar Knessl
1997